Kein Eurozentrismus

■ Literaturnobelpreis an Octavio Paz PORTRÄT

Berlin (taz) — Der Nobelpreis für Literatur geht nicht an Salman Rushdie; verliehen wurde er dem mexikanischen Essayisten und Lyriker Octavio Paz.

„In meinem politischen Utopia sind wir nicht alle glücklich, aber zumindest sind wir alle verantwortlich.“ Dieser Satz charakterisiert das Denken Octavio Paz', der in seinem Werk immer wieder die Schwierigkeiten mit dem Begriff der Realität beschreibt, die der Moderne eigen sind: „Gestern wie heute“, sagte er in Valencia 1987, „sind die Umstände wechselnd, die Ideen relativ und die Realität unrein.“ Auf die Unreinheit der revolutionären Realität in Kuba und Nicaragua wies Paz, der bis zum Hitler-Stalin-Pakt mit dem Kommunismus sympathisiert hatte, immer wieder hin; in Mexico selbst ist der 76jährige der ideologische Antipode von Carlos Fuentes.

Paz, Sohn eines Anwalts, studierte Philosophie, Jura und Literaturwissenschaft. 1945 trat er in den diplomatischen Dienst Mexikos und kam zunächst nach Paris, wo er Kontakt mit den Surrealisten aufnahm. In seinem Bemühen, Dichtung nicht als Ausdrucksmittel, sondern selbst als Akt der Erfahrung zu begreifen, stimmt er mit dem französischen Surrealismus in wichtigen Punkten überein. International berühmt wurde er durch den 1950 veröffentlichten Essay Das Labyrinth der Einsamkeit, eine Diagnose der mexikanischen Gesellschaft. In einer Verbindung aus historischer und sozialpsychologischer Analyse führt er das quälend übersteigerte Selbstwertgefühl des männlichen Mexikaners auf die Übermacht der USA und vor allem auf das historische Trauma der spanischen Eroberung zurück. 1968 gab er aus Protest gegen die blutige Niederschlagung der Studentenbewegung durch die mexikanische Regierung den Botschafterposten in Neu Delhi auf und blieb drei Jahre lang in den USA, bevor er sich endgültig in Mexiko-Stadt niederließ.

Paz' nachgerade flächendeckendes Weltbild, das einen Brückenschlag zwischen der aztekischen Religion, dem Christentum und dem Buddhismus versucht, und seine politische Haltung, die dem Konservatismus ehern verpflichtet ist, sind in Südamerika keineswegs unkritisiert geblieben.

Politisch setzt sich mit der Preisvergabe die Tendenz zur Unterstützung außereuropäischer Kulturen fort, die schon 1986 und 1988 mit den Preisen an Wole Soyinka (Nigeria) und Nagib Mahfuz (Ägypten) deutlich und von westdeutschen Feuilletons kühl bis ablehnend zur Kenntnis genommen wurde. Die Ratlosigkeit des Herrn Schirrmacher bezüglich Nagib Mahfuz wird sich aber in diesem Fall nicht wiederholen, wird doch Octavio Paz bei Suhrkamp verlegt. Was man auch den älteren Herren in Stockholm vorwerfen mag: Eurozentrismus gehört nicht zu ihren Fehlern. es