Der gebuckelte Walter Benjamin

■ »Camera obscura« — eine szenische Lesung im Hebbel-Theater

Am Ende ist es immer schlimmer, als man es sich anfänglich hat ausmalen können. Das Grauen muß im tristen Wiedervereinigungsalltag fast täglich neu erlernt werden. Jetzt bemüht man gar den Tod, um zu demonstrieren, wo der Geist immer schon zu Hause war: in der alten Reichshauptstadt Berlin. Deren Kulturpolitik bietet Benjamin, dem einst von hier vertriebenen marxistischen Philosophen, heute eine Heimstatt an. Für die Berliner CDU gilt es nicht nur, seinen Todestag zu erinnern, sondern die »50. Wiederkehr des Todes von Walter Benjamin« zu feiern ('inform pressedienst‘ Nr.468). Dazu finden sich viele bereit. In der ersten Reihe Hanns Zischler und Sibylle Lewitscharoff, die ihr anderen Ortes abgewiesenes, jetzt vom Deutschen Historischen Museum bezahltes Kulturspektakel im Hebbel-Theater inszenieren dürfen. Der Titel der Veranstaltung hätte origineller nicht ausfallen können: Camera obscura. Dahinter verbirgt sich kein Geheimnis, der Duden übersetzt den Begriff schlicht mit Lochkamera, wohl aber ein Obskurantismus. Eine Dokumentation historischer Bild- und Tondokumente wird dem Zuschauer versprochen. Gesehen hat er nachher kaum mehr als die einschlägigen Werbeporträts des Suhrkamp-Verlags, mit den Stimmen von Adorno, Scholem und Bloch unterlegt. Wo einmal mehr aufgeboten wird, erklären die Bilder nichts: Sind sie Illustration oder ornamentales Beiwerk?

Geld gibt es neuerdings für den, der die Protagonisten einer »europäisch-jüdischen Kulturgeschichte« (O-Ton CDU) versammelt. Benjamin wird für einen Kontext reklamiert, den es so nie gegeben hat. An ihm orientiert sich nichtsdestoweniger die Gedenkveranstaltung des Deutschen Historischen Museums. In der prinzipiell chronologischen Erzählung der Benjaminschen Biographie bildet der Briefwechsel Gershom Scholem—Benjamin den roten Faden. Fälschlicherweise entsteht so der Eindruck, dieses Leben hätte sich um die Achse Berlin—Jerusalem gedreht. Wichtige biographische Details gehen dadurch verloren; die intellektuell bedeutenden Kontakte zu Florens Christian Rang und Bertolt Brecht, um nur zwei zu nennen, bleiben unerwähnt. Hölderlin und Baudelaire, die die künstlerische Bezugswelt Benjamins dominiert haben, kommen im Programm ebensowenig vor wie seine Kontakte zu Schriftstellern der Zeit.

Da, wo die Beschäftigung mit dem jüdischen Messianismus für Benjamin entscheidend war, verzettelt ihn die Regie. Während Blochs eingespielter Kommentar im Vergiß das Beste nicht aus der Einbahnstraße die eingelöste Utopie des himmlischen Jerusalems angedeutet sieht, beginnt Otto Sander den melancholischen Text vom bucklichten Männlein zu lesen. In dieser Figur aber ist das jüdische Denkmotiv falsch illustriert. Benjamin sah in ihr eine Allegorie des Vergessens in der Welt des Kindes, deren verlorene Trauminhalte nicht das Ziel seiner Recherchen bilden. In einer derart rückwärts gewandten Sehnsucht hat er die Größe und das Scheitern von Kafkas Figuren eindrucksvoll erläutert, ohne sich — wie die Lesung suggeriert — mit ihnen zu identifizieren. Sein eigener Umgang mit dem Buckligen zielte auf dessen Indienstnahme durch den historischen Materialisten. Eine Überlistung der Theologie, die der Regie nicht vertraut ist. Ganz zu schweigen von den Konsequenzen, die Benjamins Konzept der Erinnerung dem buckligen Männlein als dem Agenten des Vergessens abtrotzt. Ein Begriff der Geschichte stünde dafür ein, der diesen Abend in seiner rekonstruktiven Präsentation von Kulturgütern im ganzen unmöglich machen würde.

Mittlerweile ist anderes Programm: eine Aussöhnung mit dem Judentum für jene, die unter der Gnade der späten Geburt stehen. Benjamin fielen auch zu diesem Thema ganz andere Sätze ein. Zu einem versäumten Besuch in der Synagoge hielt er in der Berliner Kindheit fest, was für sein Verhältnis zum Zionismus im großen gilt: »Das alles mag laufen, wie es will, mich geht's nichts an.« Für sich entdeckt er im Moment des Religionsverzichts längst ein anderes Begehren: Die während des Flanierens in den Straßen verträumte Religion ist das Faszinosum. Solche Formulierungen sind einem Publikum zu verschweigen, das lieber über die Wahrheiten einer Asja Lacis, die Benjamin auf Moskau verwies und von Jerusalem abbrachte, lacht. Wie viel schlauer sind wir doch heute. Benjamin bleibt der nette Kumpan im Bücherregal nebenan, der schon wußte, wovor ihn Scholem immer gewarnt hat: Der entscheidende Fehler wäre ein Eintritt in die KPD. Arme Asja Lacis — für Herrn Zischler gerade noch gut genug, als Modepuppe auf die Bühne zu rollen. Dazu spricht Sander, der am Konzept der szenischen Lesung sich großartig rächt, indem er Hans- Joachim Kulenkampff imitiert.

Die Initiatoren verdienen sich, was die CDU aktuell beim Berliner Senat einklagt, einen »Walter-Benjamin-Preis« (über mindestens 50.000 DM) für solche, »die die europäische Aufgabe Berlins, nach dem Vorbild Walter Benjamins, begründend beschrieben haben«. Großartig, nur hat Benjamin über die Stadt anders gedacht: »Berlin ist für den, der aus Moskau kommt, eine tote Stadt.« Müßig zu erinnern, daß das Lob einer Stadt gilt, deren ökonomische Armseligkeit das Moskauer Tagebuch gerade nicht verdrängt.

Die Berliner Gegenwart aber floriert. Wie in den Gründerjahren der untergegangenen Siegermacht strebt man über die Tatsachen hinweg. Symptomatisch, daß man dabei die falschen Symbole erinnert: Gleich zweimal zeigt man ein Foto der Berliner Siegessäule, die Benjamin einmal ironisch beschrieben hat. Ganz Berlin feiert wieder ewigen Sedan- Tag, zu dem Paris eine Modenschau inszenieren darf. So sieht der Triumphzug aus, in dem Benjamin als Beute mitgeführt wird. Thomas Schröder