Land zwischen Küste und Seenplatte

Im bäuerlich dominierten Mecklenburg-Vorpommern sorgt die Eigentumsfrage für neuen Gesprächsstoff/ Die Aussichten für die Landwirte sind düster/ Viele Künstler fühlten sich von der weiten Landschaft angezogen/ Ernst Barlach: „Italien war ein trister Aufenthalt gegen Güstrow“  ■ Von Bärbel Petersen

Eines hat sich in der fast tausendjährigen Geschichte nicht verändert: Mecklenburg-Vorpommern ist ein Land der Bauern. Die meisten der etwa 1,9 Millionen nördlichen Bewohner arbeiten in der Landwirtschaft. Bis 1945 galt gerade Mecklenburg als klassisches Land des Großgrundbesitzes. Danach wurde auf dem Gebiet der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) die Bodenreform durchgezogen.

Gegenwärtig wird dieses Thema neu aufgerollt. Denn im Einigungsvertrag entschieden beide Parlamente, daß an der Bodenreform nicht gerüttelt wird. Die Enteignung sei immerhin auf besatzungsrechtlicher Grundlage erfolgt. Aber das bringt jene auf die Barrikade, die damals entschädigungslos enteignet wurden. Sie wollen nun vor das Bundesverfassungsgericht ziehen.

Sie können nicht vergessen, daß sie über Nacht aus ihren Herrenhäusern und Dörfern vertrieben wurden; daß viele der Reformer auch vor Gewalt nicht zurückschreckten; daß sie nur einen Handwagen mit dem Notwendigsten mitnehmen durften; daß die meisten Familien fast alles verloren.

Im Gegenzug erhielten rund 560.000 Menschen — zum Teil selbst UmsiedlerInnen aus ehemals deutschen Gebieten in Polen — sowie Tagelöhner rund 22.000 Quadratkilometer Land. Das entspricht etwa der Fläche des heutigen Mecklenburg-Vorpommerns. Die neuen Besitzer10 schufteten und steckten viel Arbeit und Schweiß in ihr Hab und Gut. Als es viele dann zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht hatten, trat im Juni 1959 ein Gesetz in Kraft, daß die Bauern wieder enteignete: In den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) sahen Walter Ulbricht und seine Genossen ein Modell, endlich die Kollektivierung der Landwirtschaft nach sowjetischem Muster in die Tat umzusetzen. Die alten Gutshöfe wurden nun von den LPGs genutzt. Aber mit der Zeit verfielen die Häuser, der Putz bröselte von der Decke und den Wänden. Gelder für Instandhaltungen fehlten allerorts. Wer heute durchs Mecklenburger Land reist, findet nicht selten verfallene Herrenhäuser und Höfe vor.

Landwirtschaft nach sowjetischem Vorbild

Im Jahre 1974 mußten sich die LPGs spezialisieren: auf reine Tier- oder Pflanzenproduktion. So wollten es Honecker und seine Minister. Maximale Produktion um jeden Preis ohne Rücksicht auf ökologische Folgen war das Motto der Stunde. Zu spät erkannten die Offiziellen den Wahnsinn dieser Spezialisierung, denn die großangelegte Monobewirtschaftung laugte die Böden aus. Allerdings brauchten sich die Genossenschaftler nicht selbst um den Absatz von Kartoffeln, Rüben, Getreide, Fleischprodukten und Eiern zu sorgen. Das änderte sich erst mit dem Öffnen der Mauer und der Währungsunion.

Inzwischen bestimmen Existenzängste auch den Alltag der Bauern. Ihre Produkte sind nicht gefragt oder werden unter Wert verkauft, weil westliche Erzeugnisse den Markt überschwemmen. Schon dadurch scheint ein Fortbestehen der LPGs ernsthaft gefährdet zu sein. Aber auch ungeklärte Eigentumsverhältnisse, fehlende Konzeptionen, ungenügende Kenntnisse über künftige Betriebsstrukturen und Vermarktungsstrategien sowie über die sozialen Folgen hemmen die landwirtschaftliche Arbeit. Der Zwang zum effizienteren Arbeiten führte auch in der Landwirtschaft zu einem riesigen Arbeitsplätzeabbau. Mitte September waren nach Angaben des Bauernverbandes in der DDR 45.000 Landwirte vorzeitig im Ruhestand, 25.000 arbeitslos und 120.000 als Kurzarbeiter beschäftigt. Im Winter, wenn die Ernte eingebracht ist, werden die Zahlen noch steigen.

Der Präsident des Bauernverbandes Mecklenburg-Vorpommern, Eckhard Beyer, gleichzeitig Vorsitzender der LPG Tierproduktion Schwinkendorf, praktiziert ein Modell, von dem er sich auch für andere LPGs Erfolg verspricht: Ferien auf dem Lande. Seine LPG betreibt bereits ein Pferdehotel. Deshalb will er auf die künftige Landesregierung einwirken, für „Landwirtschaft und Tourismus“ entsprechende Mittel bereitzustellen.

Kunst voll Mark und Saft und Eigenwillen

Und in der Tat waren die nördlichen Bezirke von jeher ein beliebtes Reiseziel der DDR-Bürger. Die Ostseestrände wurden zu Urlaubswallfahrtsorten der Sachsen, Thüringer, Brandenburger und Sachsen-Anhalter. Zahlreiche Schlösser und ehemalige Herrenhäuser krallte sich auch der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund und baute sie unter so klangvollen Namen wie „Roter Oktober“ und „Völkerfreundschaft“ zu Urlaubszentren aus.

Typisch für die weite Landschaft Mecklenburg-Vorpommerns, dessen Herzstück die Mecklenburger Seenplatte ist, sind die roten, im gotischen Stil erbauten Backsteinkirchen, Rathäuser und Herrenhäuser. Die Pfarrkirchen in Greifswald, Stralsund, Rostock und Wismar zählen zu den schönsten Bauten dieser „Kunst voll Mark und Saft und Eigenwillen“, wie sie der deutsche Kunsthistoriker Georg Dehio in den dreißiger Jahren beschrieb. Aber auch romanische und barocke Baukunst prägen das Antlitz der Städte und Dörfer, wie ein Streifzug auf der Insel Rügen, dem nördlichsten Landstrich Mecklenburg-Vorpommerns, zeigt.

Die kleine Insel Hiddensee scheint von hier aus wie ein Katzensprung entfernt. Einer der bekanntesten und wortgewaltigsten Wahl- Hiddenseer war Gerhart Hauptmann, der sich überwiegend hier aufhielt und auf dem Dorffriedhof in Kloster begraben liegt. Die Insel Hiddensee ist nur mit der Fähre zu erreichen, während die Insel Rügen direkt durch den 1936 erbauten Rügendamm vor den Toren Stralsunds mit dem Festland verbunden ist.

Ruinen schaffen ohne Waffen

Nur eine halbe Stunde süd-östlich von Rügen liegt die alte Universitätsstadt Greifswald, vielen gerade in den letzten Monaten wegen ihres maroden Atomkraftwerks bekannt. Die Peripherie der Stadt wird wie in den meisten Städten der DDR von kastenförmigen Neubaublöcken verunziert. Das hätte den in Greifswald geborenen Maler Caspar David Friedrich sicher nicht als Motiv angeregt, der sich gerade von dieser Landschaft zwischen Greifswald und Neubrandenburg immer wieder angezogen fühlte. Als er vor 200 Jahren die Silhouette der Stadt malte, weideten Pferde auf den Wiesen und Windmühlen drehten sich im Wind. Aus Greifswald stammt übrigens auch der Schriftsteller Fallada.

Greifswald gehört zu den wenigen Städten, die nicht vom Krieg zerstört wurden. Heute bietet die Stadt allerdings ein trauriges Bild des Verfalls. Als Erich Honecker im Juni 1988 zur feierlichen Einweihung des Domes anreiste, wurden die Fassaden am Marktplatz restauriert: Von vorn wirkten sie hübsch angemalt, sogar Gardinen fehlten nicht, und dahinter gaben ihnen Stützpfeiler den nötigen Halt. Hier wurde damals der Spruch geprägt „Ruinen schaffen ohne Waffen“.

Eine ähnliche Geschichte kursiert auch über den Marktplatz von Güstrow, als Altbundeskanzler Helmut Schmidt 1981 diese Stadt zwischen Rostock und Schwerin besuchte. Ob er wohl wußte, daß ihm mehr herankutschierte Stasi-Leute als Einheimische zujubelten? Und daß der Weihnachtsmarkt mit dem reichlichen, sonst so raren Apfelsinenangebot vom Bezirksstasi-Chef exakt organisiert wurde? Mit dem Namen Güstrow verbindet sich auch der Name Ernst Barlach. Er kam 1910 in diesen Ort und ließ sich einen alten Pferdestall als Atelier ausbauen. Über seinen Entschluß, in Güstrow zu bleiben, schrieb Barlach: „An Berlin denke ich mit Schauder und Graus, und Italien war ein trister Aufenthalt gegen Güstrow!“ Zwei Jahrzehnte später wurde der Schöpfer mehrerer Antikriegsdenkmäler als „entarteter Künstler“ angeprangert, seine Stücke verboten. Sein wohl bekanntestes Werk, Der Schwebende, einst Mahnmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges, mit den Gesichtszügen von Käthe Kollwitz, hängt im Güstrower Dom.

Nur eine Autostunde von Güstrow entfernt liegt die künftige Landeshauptstadt Schwerin. So jedenfalls wünschen es sich die Schweriner und die Mehrheit der Kommunen. Denn immerhin war die Stadt seit 1358 —mit Unterbrechung von 1756-1837 — bis zum Sturz der Monarchie im Jahre 1918 Residenz der mecklenburgischen Herzöge bzw. Großherzöge. Ihr Sitz, das Schweriner Schloß, präsentiert sich wie aus einem Märchenbuch mit seinen über 300 Türmen und Türmchen. Der Hauptstadt-Konflikt ist noch nicht gelegt. Für Fritz Reuter, einer der berühmtesten Mecklenburger Dichter, steht seit über hundert Jahren fest: „Mecklenburg hat zwei größte Städte, nämlich Rostock und Schwerin, wo im Sommer des Morgens keine Kühe ausgetrieben, und ungefähr vierzig kleine, wo Kühe ausgetrieben, welches nach meiner Ansicht den Hauptunterschied zwischen großen Städten hergibt.“