„Bürokratischer Sozialismus“ war kein Sozialismus

■ Die Soziologie in West und Ost tut sich mit der Deutung der realsozialistischen Gesellschaften schwer

An den Plenumsveranstaltungen des 25.Deutschen Soziologentages in Frankfurt konnte das Interesse der über 2.000 TeilnehmerInnen deutlich abgelesen werden. Während der Streit um die Postmoderne und das Thema „Klassengesellschaft, Patriarchat und Individualisierung“ großen Zulauf hatten, blieben die Hörsäle halbleer, als es um die „Westeuropäische Integration“ oder die „Systemveränderung sozialistischer Gesellschaften“ ging.

Dabei zeigte sich gerade in der Debatte über die Umwälzungen in ganz Osteuropa das eklatante Defizit der westdeutschen Soziologie, die die realsozialistischen Gesellschaften entweder mit Ignoranz strafte oder ganz und gar unzulängliche Prämissen zur Grundlage der Forschung erhob.

Lange Zeit, warf ein Kritiker in die Diskussionsrunde ein, habe die Sozialwissenschaft den totalitären Charakter der Comecon-Staaten verkannt, eine schematisierte Bürokratiekritik formuliert und die ungarischen, tschechischen und polnischen Theoretiker der real existierenden Gesellschaften Osteuropas nicht zur Kenntnis genommen.

Ein ähnlich schlechtes Zeugnis stellte Michael Thomas vom Ostberliner „Institut für sozialwissenschaftliche Studien“ der alten DDR-Soziologie aus: „Weder wurde die Qualität der Eigentumsverhältnisse wirklich analysiert noch wurde die in der Tat erstrangig strukturierende Dimension der Macht aufgedeckt.“

Nun aber stritten die WestsoziologInnen über den Begriff der „Revolution“. Er sei unzutreffend, behauptete Egbert Jahn. Die kommunistischen Parteien hätten, innerlich schon zersetzt, dem Volk die Macht schließlich „geschenkt“. Ganz im Gegenteil, widersprachen Dieter Senghaas und Sigrid Meuschel: Nach teils jahrzehntelangen Gärungsprozessen habe die Bevölkerung die stalinistischen Parteien gestürzt, die nicht mehr auf militärische Machtmittel zurückgreifen konnten.

Es scheint, daß auch die Soziologie, die Wissenschaft von der Gesellschaft, dazu neigt, nur jenen politischen und sozialen Veränderungen das Attribut „revolutionär“ zuzuerkennen, die nicht über den Horizont der mühevoll aufgebauten Begrifflichkeit hinausreichen. Schon regen sich Stimmen, die dekretieren: Das, was die Soziologie jahrzehntelang als „bürokratischen Sozialismus“ betrachtet habe, sei im Grunde gar kein Sozialismus gewesen.

Reinhard Mohr