Soziologengefechte auf dem „Post-Kongreß“

Auf dem 25. Deutschen Soziologentag in Frankfurt/Main wußte niemand, wie spät es ist/ Sozialwissenschaftler debattierten um reflexive oder Weiter-so-Modernisierung/ Verteter der Postmoderne im Lagerfeld-Look versus normierte Habermasianer  ■ Im Hörsaal Reinhard Mohr

Als der Frankfurter Oberbürgermeister Volker Hauff (SPD) zur Eröffnung des 25. Deutschen Soziologentages an die versammelten Sozialwissenschaftler appellierte, der Gesellschaft „weiter den Spiegel vorzuhalten, wenn nötig, sie auch zum Tanzen zu bringen“, hatte er gewiß nicht den letzten Soziologentag im Blick, den es in Fankfurt gab. Der mußte 1968 wegen allzu praktischer Intervention der Gesellschaft — hier: rebellierende Studenten — vorzeitig beendet werden. Was damals noch als Frage das Motto des Kongresses bestimmte: „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?“, scheint heute entschieden.

Auch wenn das Leitthema schon vor den Revolutionen Osteuropas formuliert wurde, zeugt es doch von einer hochaktuellen Erkenntnis: Niemand weiß, wie spät es ist, aber alle wissen, daß es danach ist, eben „post“, postsozialistisch, postideologisch, postmetaphysich, und, mit zehnjähriger Verspätung haben es auch die SoziologInnen gemerkt, postmodern. Unter dem Titel „Die Modernisierung moderner Gesellschaften“, der eher an die Jahreshauptversammlung der Versicherungswirtschaft erinnert als an die Zusammenkunft von mehr als 2.000 Analytikern brisanter gesellschaftlicher Entwicklungen, wurde denn auch in mehr als 70 Veranstaltungen und 340 Referaten darüber gestritten, ob das Scheitern der politischen, sozialökonomischen und wissenschaftlichen Großsysteme den Bruch oder die Kontinuität der Moderne markiert.

Nachdem der „soziale Wandel“ über alle Modelle des „dialektischen Umschlags“ triumphiert hat, rückt die Qualität der modernen Gesellschaft westlich-kapitalistischer Prägung erst recht in den Mittelpunkt. Schon in den beiden Eröffnungsreferaten deutete sich die — nicht nur sozialwissenschaftlich orientierte — Debatte der Zukunft an. Während der Vorsitzende der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ (DGS), Zapf, in der Kombination von beständiger Innovation und politischer Reform das Rezept einer Weiter-so- Modernisierung der bürgerlichen „Konkurrenzdemokratien“ sah, kritisierte sein Kollege Ulrich Beck („Risikogesellschaft“) dies als unzureichende „einfache Modernisierung“. Vehement plädierte er für eine „reflexive Modernisierung“, für eine „Rationalisierung der Rationalisierung“, die nichts anderes ist als die konsequente Selbstkritik der modernen Gesellschaft. Beck warnte davor, „mit dem Grabgesang auf den Marxismus — mit guten Gründen und schlechten Manieren — anachronistische Modernisierungskonzepte zu legitimieren“. Die Moderne, deren Krisen ihrem eigenen Siegeszug entstammten, beginne nun erst. Am Beispiel der ökologischen Krise zeige sich, daß auch innerhalb der etablierten Institutionen Widersprüche und „gegenbürokratische Kräfte“ entstünden, die den Legitimationsbedarf der Apparate wachsen ließen und die Notwendigkeit gesellschaftlicher „Selbstbegrenzung“ deutlich machten. Ein Resultat dieser politischen Zivilisierung sei die gewachsene Rolle der Subjekte jenseits traditioneller Großorganisationen.

Ob diese Subjekte in der Lage sind, die drängenden Herausforderungen der Gegenwart zu bewältigen, blieb auch im überfüllten Plenum „Postmodernismus und Kulturtheorie“ als implizite Frage gegenwärtig. Axel Honneth, Habermasianer mit leicht zerzaustem Haar, gestand den „postmodernen“ Theorieansätzen zutreffende Zeitdiagnosen über jene mediale Weltkommunikation zu, die eine „Sekundärkultur“ geschaffen und die traditionelle soziokulturelle Überlieferung weitgehend zerstört habe. Der Kommunikationsverlust der Individuen und die Verwischung der Grenze zwischen Realität und Fikton führten tatsächlich zur Imitation vorgefertigter Lebensstile und damit zu einer „motivationalen Entleerung der subjektiven Lebenswelt“. Diese durchaus adornitische Kulturkritik wandle sich jedoch unter den flinken Händen der Postmodernen in reine Affirmation. Mit Freude sähen diese „die Ästhetisierung individueller Gestaltungsräume“, das an Nietzsche gemahnende „experimentelle Sichselberschaffen“ im Pluralismus der Kulturen. Gegen diese „solipsistische Selbstverwirklichung“ der frei schwebenden Individuen setzt Honneth die Unverzichtbarkeit „normativer Strukturen der sozialen Anerkennung“. Ohne eine übergreifende Orientierung gebe es auf Dauer weder Freiheit noch die verbindliche Moral „postindustrieller Sittlichkeit“.

Wolfgang Welsch, prononcierter Vertreter der „Postmoderne“, der schon äußerlich Karl Lagerfeld näher steht als Karl Marx, wandte sich gegen die „scheinrationale Diskreditierung des Abweichenden“ durch den diskursiven Zwang zum Konsens, wie ihn etwa der „Modernist“ Habermas (der auf dem Soziologentag fehlte) vertritt. Gerade der Verzicht auf einen exklusiven Wahrheitsanspruch, der nicht nur Adorno von „falschen Bedürfnissen“ reden ließ, beinhalte eine „Radikalisierung der Aufklärung“: Legitime Uneinigkeit und pluralistischer Dissens fänden ihren Rahmen in den garantierten bürgerlichen Freiheitsrechten. Nach dem Ende der „großen Erzählungen“, „Emanzipation“, „Revolution“, „Fortschritt“ bestehe die „Metaerzählung“ der Postmoderne in der Idee von der Vielfalt der Ideen und sozialen Konfigurationen. Wegen der Luftigkeit dieser Formulierung wollte Welsch keinen Zweifel daran lassen, daß er den „indifferenten Pluralismus der Oberfläche“, der im Geist der Supermarktkunden kulminiere, ebenso verabscheue wie seine kritischen Kritiker.

Der Aachener Soziologe Rehberg machte schließlich darauf aufmerksam, daß auch die Systemtheorie Niklas Luhmanns eine „postmoderne Pointe“ aufweise — „in der gewitzten Distanz zu dem, was ohnehin geschieht“.

Ob der Kakophonie der schon nicht mehr neuen Unübersichtlichkeit den „Konformismus des ,anything goes‘ und die intellektuelle Pauperisierung“ beschleunigt, wie Cornelius Castoriadis befürchtet, oder die Selbstreflexion und Selbsttätigkeit einer aufgklärten Gesellschaft stärkt, konnte auch der 25. Deutsche Soziologentag nicht entscheiden, dessen Teilnehmer schon froh sein durften, den Anschluß an die Dynamik ihres Untersuchungsgegenstandes nicht ganz zu verlieren. Die beiden großen gesellschaftlichen Ereignisse seit dem letzten Kongreß — die globale ökologische Krise und das Ende des „real existierenden Sozialismus“ — hatten jedenfalls alle Mühe, sich gegen das sperrige soziologische Begriffsinstrumentarium durchzusetzen. Interessierte Zaungäste der viertägigen Veranstaltung konnten sich auch „ex post“ davon überzeugen, nicht den akademischen Weg eingeschlagen zu haben, sondern Revolutionär, Taxifahrer oder Journalist zu werden.