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Schwuler Sessel mit Ost-West-Gefälle

■ Lahmer schwuler Ost-West-Ratschlag Dauerbrennerstreit um Sexualstrafrecht und Homoehe

Mitte. Von der »Stricklies'l bis zum Stricknadelfolterer« sollten sie alle massenhaft kommen, und vor allem auch möglichst viele »einfache und interessierte« Schwule. So stand es in der Einladung zum ersten Gesamtberliner »Schwulenpolitischen Ratschlag« am Samstag im Haus der Jungen Talente. Doch »die ganz Normalen«, wie einer der Initiatoren enttäuscht meinte, kamen erst gar nicht. So philosophierte nur ein intimer Kreis von 18 westlichen und 7 östlichen »Bewegungsfunktionären« — zuzüglich einer ungeladenen, aber dafür selbstbewußten »Ost-Lesbe« — unter anderem über die verhängnisvolle »Perpetuation von Schlammschlachten« und die Risiken eines »erfahrungsimmunisierten armchair-approach«.

Ursprünglich hatten die Initiatoren aus der Westberliner AL und dem Ostberliner Bündnis 90/Grüne fünf Diskussionsgruppen geplant: zu den Perspektiven der Berliner Schwulenbewegung, der Errichtung eines Schwulen- und Lesbenhauses, Aids, Gewalt gegen Schwule und zur Einführung einer universitären Homoforschung in Berlin. Erwärmen konnten sich die streitfreudigen Bewegungsfunktionäre jedoch bloß für die Erörterung ihrer eigenen Bewegungen. Die stark west- und theoriedominierte Diskussion drehte sich schließlich um den ominösen »Minimalkonsens«: Wollen wir nur die Streichung des 175ers oder lieber gleich eine Reform des gesamten Sexualstrafrechts? Offenbart sich in dem Ruf nach einer Homoehe die Verspießerung oder darf »das Subversive der Homosexualität« nicht hochstilisiert werden? Was ist von der Heterosexualisierung der Homos beziehungsweise der Homosexualisierung der Heteros zu halten? Gibt es gar eine »Fetischisierung der Unterdrückung« und ohne den 175er in der Bewegung nur noch schlaffe Segel ohne Wind? Führt die Gleichberechtigung ins Kleinbürgertum?

Die bewegten Männer waren des Redens müde. Eine »implodierte« Gesprächsrunde, wie ein anwesender Soziologe bitter bemerkte. Daß Albert Eckert, einer der AL-Organisatoren des Schwulenpolitischen Ratschlags, nicht erschienen war, sei wohl ebenfalls ein Zeichen dafür, daß die »echte Politik« woanders gemacht werde. Grund für die Abwesenheit des Ex-Parlamentsvize: Eine Sitzung, auf der die AL-Mitglieder ihre schwulen Vertreter für die kommende Berlin-Wahl nominierten.

Wenn auch nicht den Minimalkonsens, so hat der Ratschlag doch zumindest eine Erkenntnis gebracht: Ost-Schwule hören (noch) mehr zu, argumentieren pragmatischer und weisen in den Augen ihrer West-Kollegen ein gewisses Theoriedefizit auf. Dem West-Schwulen dagegen scheint es häufig um das Diskutieren an sich zu gehen. Nicht Meinungen werden ausgetauscht, sondern Statements parlamentarisch perfekt verlautbart. Marc Fest

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