ZWISCHEN DEN RILLEN VONCHRISTOPHWAGNER

Warum ist man eigentlich künstlerisch tätig, als Komponist oder Musiker? Mit dieser (für sie existentiellen) Frage haben sich vor Jahren John Cage und Lou Harrison auseinandergesetzt und sind dabei unabhängig voneinander an zwei höchst unterschiedlichen Stellen (Cage bei seiner Beschäftigung mit indischer Musik, Harrison in einem englischen Text des 16. Jahrhunderts) auf dieselbe Antwort gestoßen: „Zur Läuterung des Geistes, um ihn für die göttlichen Einflüsse empfänglich zu machen.“

Um diesem spirituellen Ziel näherzukommen, haben die beiden amerikanischen Komponisten getrennte Wege eingeschlagen. Cage (Jahrgang 1912), wählte als Ausgangspunkt seiner Musik das gesamte Universum der Klänge, das bei den Geräuschen beginnt. Dagegen hält Harrison (Jahrgang 1917), der im Gegensatz zu Cage nie einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, penibel an der Trennung zwischen dem Musikalischen und dem Nichtmusikalischen fest. Beide Künstler sind von der Kultur des Fernen Ostens beeinflußt. Während bei Cage das zen-buddhistische Denken den Kern seiner Lebens- und Musikphilosophie bildet, hat Harrison musikalische Elemente Asiens viel direkter absorbiert. Ein Teil seiner Musik speist sich aus den Gamelan- Klängen Balis und Javas, wie sie dort von den großorchestralen Schlagwerkensembles auf einer Vielzahl von Metallophonen gespielt werden.

Harrisons andere Inspirationsquelle ist in Europa beheimatet und ebenso alt. Im ersten Jahrtausend christlicher Zeitrechnung entstand in der Welt der Klöster der gregorianische Choral — das gesungene Gebet. Das Ebenmaß seiner asketischen Linien verknüpft Harrison in organischer Weise mit der perkussiven Melodik der Gamelanmusik zu einer spannungsreichen Mischung aus meditativen Ruhepunkten und dramatischen Verdichtungen. Das Zentralwerk seiner neuesten Platte — La Koro Sutro — (erschienen auf dem kalifornischen New-Albion-Label) stellt höchste Anforderungen an den Chor der Universität Berkeley (Leitung: Philip Brett), der vom American Gamelan-Ensemble begleitet wird, das William Winant leitet, den man aus Zusammenhängen des ROVA-Saxophonquartetts und der Gruppe Room kennt. Harrison bedient sich bei diesem Chorwerk der Universalsprache Esperanto; die ursprüngliche Gregorianik Gesänge wurde in der Universalsprache des europäischen Mittelalters, in lateinisch, gesungen. Lateinisch ist auch das musikalische Drama Ordo Virtutum, das aus der Mitte des 12. Jahrhunderts stammt und von Hildegard von Bingen komponiert wurde. Es liegt nun in einer Einspielung der Gruppe Sequentia vor. Vermutlich wurde dieses „Spiel der Kräfte“ von der Benedikterinnenoberin zur Einweihung ihrer Klosterneugründung Rupertsberg (bei Bingen) im Jahre 1152 geschrieben. Es sprengt in jeder Hinsicht, sowohl was die dramatischen Mittel als auch die musikalische Form betrifft, den Rahmen der Gregorianik, ein Umstand, der möglicherweise auf die seherischen Fähigkeiten der Mystikerin Hildegard zurückzuführen ist. Ihre visionären Erlebnisse fanden in der Musik ein Medium. Das spärlich instrumentierte Vokalwerk setzt — ganz der Dichotomie des mittelalterlichen Weltbildes folgend — den Kampf der göttlichen Kräfte gegen die Versuchung des Teufels in Szene, die Seele muß sich zwischen Gut und Böse entscheiden.

Ebenfalls vom Geist des Mittelalters inspiriert ist die neuste Platte der amerikanischen Vokalartistin Meredith Monk. Book of Days pendelt zwischen der Jetzt-Zeit und der vorindustriellen Epoche hin und her. Eva, ein kleines jüdisches Mädchen des 14. Jahrhunderts, hat Zukunftsvisionen. In ihren Erscheinungen begegnet sie der Welt des 20. Jahrhunderts. Flugzeuge, Autos, Krankenhäuser, Großstadtleben hält sie in Zeichnungen fest, die sich im nachhinein als richtige Vorahnungen erweisen. Daneben durchwandert sie die vielen in sich abgeschlossenen Welten des Mittelalters. Sie trifft Reisende, begegnet Außenseitern und Verrückten, sieht die Bauern auf dem Feld. Im Titelstück Dawn wird das Klosterleben veranschaulicht: Noch vor Sonnenaufgang, am frühen Morgen steigen die Ordensleute vom Schlafsaal hinab und beginnen inmitten der Finsternis und Stille ihr Gebet zu singen. Monk zieht alle Register ihres Könnens. Von den einstimmigen gregorianischen Linien geht sie über zu komplexeren Gesangspartien, die durch ethnische Vokaltechniken Afrikas beeinflußt sind, und stößt zuweilen bis zu den „Maulwerken“ der avantgardistischen Vokalistik vor.

Lou Harrison: La Koro Sutro. New Albion Records NA 015 (Bezug: Inspyration, Wülfingstr.10, 4320 Hattingen)

Hildegard von Bingen: Ordo Virtutum. Sequentia. Edition Classica/deutsche harmonia mundi GD 77051

Meredith Monk: Book of Days. ECM New Series 1399

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