Lügen diese Bilder?

Herbert Sonnenfeld — Ein jüdischer Fotograf im Berliner Martin Gropius-Bau  ■ Von Christel Dormagen

Im Vordergrund ein junges Mädchen und ein junger Mann, im Dreiviertelprofil einander zugewandt. Beide stützen sich mit den Armen locker auf Schaufeln, das Mädchen hat zusätzlich den linken Fuß auf ihr Schaufelblatt gestellt. Beide tragen ländliche Arbeitskleidung: sie Rock und Bluse und darüber eine Kittelschürze; er weites Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und kurze Hosen. Beider Haar ist kurz, ein wenig vom Wind zerzaust, nicht ganz blond, nicht ganz dunkel. Sie stehen auf einem Feld, im Hintergrund sind Bäume zu sehen. Sie lächeln in die Ferne, das Mädchen mit rundlich lächelndem Gesicht.

Kleidung und Haarschnitt weisen auf die dreißiger, vierziger Jahre. Mehr noch. Der mit historischen Bildmustern gefütterte Blick ist entschiedener in der Zuordnung und identifiziert das Schwarzweißfoto als reinrassigen Nazi-Topos: deutsche Jugend bei der Bearbeitung deutscher Scholle. Das Bild ist 1937 in der Nähe von Berlin aufgenommen worden und stammt von dem Berliner Fotografen Herbert Sonnenfeld. Nichts auf dem Bild ist gelogen. Und es war doch alles ganz anders. Die beschriebene Fotografie ist die Reproduktion eines von insgesamt 3.500 Negativen, die Leni Sonnenfeld, Witwe des Fotografen, inzwischen in Amerika lebend, 1988 dem Berliner Museum verkauft hat. Im Berliner Gropius-Bau sind nun zum ersten Mal 90 Abbildungen aus dem neu erworbenen Archiv in einer Ausstellung zu sehen. Und diese Ausstellung ist in der Tat in höchstem Maße irritierend. Denn was man auf den Bildern sieht, ist abgebildete Wirklichkeit und doch weder Tatsache noch Fälschung. Was man sieht, ist, im Wortsinn, wahrer Schein.

Herbert Sonnenfeld (1906-1972) war Jude. Er war als Laie zur Fotografie gekommen; Zeitungen entdeckten ihn; und er war, nach 1933, einer der wenigen jüdischen Fotografen, denen es mit Nazi-Sondergenehmigung gestattet war, weiterzuarbeiten. Allerdings unter einer Bedingung: Er durfte nur für jüdische Zeitungen und Institutionen arbeiten, und das hieß, er hatte sich auf die Bebilderung jüdischen Lebens zu beschränken. Als die Nazis im November 1938 schließlich endgültig auch die — im übrigen in Berlin besonders zahlreiche — jüdische Presse verboten hatten, war auch das nicht mehr möglich; so erklärt sich der Untertitel der Ausstellung: „Ein jüdischer Fotograf in Berlin 1933-1938“. Sonnenfeld selber konnte mit seiner Frau Ende 1939 in die Vereinigten Staaten auswandern.

Was in der Ausstellung zu sehen ist, sind also Bilder jüdischen Lebens in und um Berlin; übersichtlich gegliedert in Bereiche wie: Presse, Theater, Sport, Sozialwesen, Schule, „Berufsumschichtung“ und Auswanderung. In dem Maße, wie die nationalsozialistische Regierung nach 1933 mit zunehmender Schärfe eine Unzahl antijüdischer Gesetze und Verordnungen erließ, produzierte sie — ungewollt — eine Erscheinung unter der deutschen Bevölkerung jüdischer Herkunft, die bis dahin, zumindest in dem Ausmaß, unbekannt war. Jene Deutschen, die sich plötzlich, zwangsweise und von außen, als vor allem und später ausschließlich, Juden definiert sahen, begannen nun, in der Not und gewissermaßen zur Selbsterhaltung, sich auf ihr Jüdischsein zu besinnen. Ein Großteil der deutschen bürgerlichen Westjuden hatte sich bis dahin weniger religiös oder gar rassisch gebunden gefühlt, war vielmehr eher um Anpassung ans Deutsche, um „Assimilation“ bemüht; auch wenn es selbstverständlich schon vorher in Deutschland jüdische — auch streng orthodoxe — Zusammenschlüsse und Verbände gab.

Wenn nun z.B. der 1933 gegründete „Kulturbund deutscher Juden“ sich ab 1935 „Jüdischer Kulturbund“ nennen mußte, so scheint das nur eine beiläufige Buchstabenumverteilung zu sein und war doch, im Sinne des Staatsbürgerverständnisses, eine Änderung ums Ganze. Und wenn dieser Kulturbund in der Folge sämtliche geplanten kulturellen Veranstaltungen der entsprechenden Nazibehörde zur Prüfung auf „staatsgefährdende“ Inhalte vorzulegen hatte — jüdischen Interpreten war der Gebrauch „arischer“ Künstler von Schiller bis Beethoven verboten —, dann bedeutete solche erzwungene Beschränkung auf jüdische Autoren und Themen eben auch erstmal eine vom jüdischen Kulturpublikum selbst gespürte und formulierte Ausdünnung ihres kulturellen Lebens.

Die 'C.V.-Zeitung‘ (Organ des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“) schrieb 1934 zur Erstaufführung von Stefan Zweigs Jeremias: „Zum ersten Male wird der Kulturbund mit einer Darstellung vor sie [das Publikum] hintreten, die sich ihre jüdische Rechtfertigung nicht mühsam konstruieren muß“. Das heißt vor dem Novemberprogrom 1938, der sogenannten „Reichskristallnacht“, erlebte das großstädtische Publikum diese Restriktionen noch selbstbewußt empört als barbarischen Eingriff einer kulturlosen Regierung. Eine gesellschaftliche Schicht, die sich vorbehaltlos als deutsch verstanden hatte, sah sich plötzlich auf etwas zurückgeworfen, was ihr wie eine Fiktion erscheinen mußte: die jüdische Tradition. Man trug deshalb anfangs eher Sorge um das kulturelle Defizit: die „Herabsetzung des Niveaus... aus „völkischen“ Rücksichten“.

Notgedrungen erst, dann aber auch mit großem Interesse begann man nach dieser geistigen Ausweisung, nach einer anderen Heimat zu suchen, einer inneren sowie einer äußeren: Unter dem Titel „Mehr Judentum — aber wie?“ hieß es 1935 in der 'C.V.-Zeitung‘: „Immer wieder hört man das Wort: mehr Judentum. Niemand aber sagt, was er darunter versteht.“

Auf verschiedene Weise versuchten die religionsindifferenten jüdischen Deutschen — nun zu Juden gemacht —, diesen ihnen fremden Begriff zu füllen, jüdische Vergangenheit, jüdischen Geist, jüdisches Wesen zu erforschen. Dazu kam die bittere praktische Notwendigkeit, einander zu helfen und zu stützen: Es gab sehr bald keine staatliche Wohlfahrt für jüdische Deutsche mehr; Juden hatten Berufsverbot; in „deutschen“ Organisationen durften sie keine Mitglieder mehr sein; allgemeine Schulen und Hochschulen wurden ihnen bald nach 33 verschlossen.

In Berlin, der Reichshauptstadt, bündelte sich die Not wie die Hilfe. Viele Bürger sahen sich in der Provinz heftigeren antisemitischen Angriffen ausgesetzt und suchten um ihrer selbst und ihrer Kinder willen den Schutz der Großstadt. Dort entstand dann sehr schnell ein erstaunliches Netzwerk jüdischer sozialer und kultureller Einrichtungen, von Museen über Sportklubs bis zu Waisenhäusern: eine Notgemeinschaft zur Existenz- und zur Identitätsneubegründung, die für eine kurze Zeit sogar so etwas wie ein kleines heiles jüdisches Glasglockenglück im großen heillosen deutschen Naziterror möglich machte.

Nischen im Nazismus?

Vor allem die Schulen, die Internate und Landschulheime wurden zu einer Art beschützender Freiheitsinseln, die der alltäglichen antisemitischen Hetze vorläufig entzogen waren: „Es mag dem heutigen Leser eigenartig vorkommen, daß wir versuchten, trotz der gegebenen Umstände ein ganz normales Schulleben zu führen... Aber es war unser Ziel, den Jugendlichen wenigstens an einem Ort noch Lebensfreude und so etwas wie Normalität zu vermitteln“ (ein ehemaliger Lehrer).

Und unter eben dieser Glasglocke bewegt sich der Fotograf Sonnenfeld. Und eben dieser Widerspruch von Innen und Außen bestimmt den Charakter seiner Bilder. Wie etwa den jenes anfangs beschriebenen.

Die zwei ackerbauenden jungen Leute sind in Wirklichkeit Mitglieder eine Bundes religiöser jüdischer Pioniere, die in einem Lager in der Nähe Berlins für ein neues Leben in Palästina vorbereitet werden. Es gab sehr bald nach 1933 verschiedene Einrichtungen, die aus doppeltem Grund die Auswanderung förderten: jungen deutschen Schulabgängern wurden Ausbildung und Beruf verwehrt, und die anfängliche Hoffnung der jüdischen Gemeinschaft, sie könne — mit Einschränkungen — doch im Nazireich überleben, erwies sich als grauenhafter Irrtum.

Da nun in Palästina vor allem handwerkliche und landwirtschaftliche Berufe gebraucht wurden — das englische Protektorat vergab überhaupt nur Einreisevisa beim Nachweis solcher Befähigung (mit Ausnahme vom sogenannten „Kapitalistenvisum“, das mit Geld erworben werden konnte) —, die westjüdische Bourgeoisie, aber vorwiegend in Intellektuellen-, Beamten-, Künstlerberufen tätig gewesen war, benötigten die Auswanderwilligen eine „Umschichtung“. Mit diesem merkwürdig technischen Begriff bezeichnete die jüdische Gemeinschaft die von ihr selber eingerichteten Umschulungsmaßnahmen, obwohl sie die durchaus gleichzeitig als ganzheitlich verstand: „Aus dem Bürobewohner und Schreibtischmenschen einen neuartigen Typ zu gestalten, der an Schraubstock und Werkbank oder in der freien frischen Luft der landwirtschaftlichen Umgebung seinen Mann in der Urproduktion stand, blieb von da an einer der Grundsätze der Berufsumschichtung.“

Mit welch scheinbar ungetrübter Leidenschaftlichkeit das geschah, erzählt ein jüdischer Berufsberater: „Es erscheint ein schlanker junger Mann und will Grobschmied in Palästina werden. Er war früher Werbeschriftsteller und Propagandist und lehnt den Beruf eines Monteurs oder Schlossers ab: „Das wird heute jeder. Nein, einen Bruf, an den sich nicht jeder heranwagt, vor dem sich die anderen scheuen! Im heißen Palästina am glühenden Schmiedeofen stehen, das ist Umschichtung!“

Les extrêmes se touchent — die Gegensätze berühren sich. Wie auf den Bildern, so in der Sprache. Es gab „überbündische Führerschulungswochen“ mit Bibellektüre durch Martin Buber; und es gab die Beschreibung des „Neuen Juden“ durch die zionistische Makkabi-Bewegung: „Jahrhunderte anormalen Lebens haben dem Volkskörper der Juden Schäden zugefügt, die ihre tiefen Eindrücke in Psyche und Physis des jüdischen Menschen hinterlassen haben. Diese Schäden zu beseitigen, ist ein Teil dessen, was wir Renaissance des jüdischen Volkes nennen. Daß gerade der Makkabi diese eugenische und rassisch wie biologisch so wichtige Aufgabe übernommen hat, spricht für die diagnostischen Fähigkeiten der Menschen, die diese Bewegung geschaffen haben.“ Und es läßt sich im nachhinein kaum ausmachen, ob diese Nähe zur Nazisprache gewissermaßen einem „Zelig-Effekt“ entspringt oder auf die bündische Reformjugendverbundenheit beider Bewegungen deutet.

Das Foto als Palimpsest

Betrachtet man zum Beispiel das Foto mit den sockenstopfenden jungen Mädchen — die für „arische“ Bildpropaganda allenfalls ein wenig zu dunkelhaarig sind — oder das der jungen Frauen, die sich um einen Herd gruppieren, dann scheinen das zwar „deutsche“ Frauen bei der Ausübung der deutschesten aller Frauentugenden zu sein; und doch sind die Mädchen Schülerinnen einer jüdischen Schule, die es Minderjährigen ermöglichte, mit Zertifikat nach Palästina auszureisen. Und die jungen Frauen lernen in einer Lehrküche am „Palästinaherd“ die Besonderheiten des Wüstenkochens. Um solche Bilder angemessen zu verstehen, muß man sie als das begreifen, was sie sind: als Palimpseste, d.h. als übereinandergelegte doppelte Schrift. Dazu könnte man etwa die Beschreibung einer jungen Frau aus einem Umschichtungslager lesen: „Ich war Korrespondentin und hatte mich auch nie für hauswirtschaftliche Betätigung interessiert, und jetzt kam die Wirklichkeit... Aber ich lernte, ich lernte mit eisernem Willen — wie man Zimmer ausfegt, wie man Wäsche wäscht, plättet, wie man kocht.“

In diesem Sinne sind Sonnenfelds Bilder jüdischen Lebens wie Eisberge. Sie bilden wirkliche Oberfläche ab: so war es! Aber sie täuschen, weil sie stumm sind. Das Eigentliche; das, was ihr Vorhandensein begründet, ist unsichtbar. In diesem Sinne auch sind die Bilder zwar vollständig, aber nicht autark. Sie sind notwendig angewiesen auf zusätzliche Informationen. Und die liefert der ausführlich kommentierende und dokumentierende Katalog, der wie die Ausstellung von Maren Krüger besorgt wurde. Indem man schaut und liest (u.a. Auszüge aus Autobiografien überlebender Juden) erschließt sich eine nicht nur Berliner Geschichte der deutschen Juden im Nationalsozialismus.

Schließlich sind die Bilder Simulacren. Sie inszenieren die Idealität eines erhofften jüdischen Lebens zu eben dem Zeitpunkt, da es durch Nazi-Deutsche unmöglich gemacht worden ist. Es sind Abbilder eines „normalen“ Alltags, die geradezu heiter von natürlichem Leben plaudern. Und es sind Dokumente einer einzigen gewaltsamen Ausnahme, die eine künstlich arrangierte, aus höchster lebensbedrohender Not gegründete Lebensweise bezeugen.

Lügen die Bilder also, indem sie unschuldig tun? Indem sie Ursprünglichkeitsidyllen präsentieren, die scheinhaft, da absolut vermittelt hergestellt sind? Eine Lüge ist immer auf ihren Gegenpol, die Wahrheit, bezogen, indem sie sie zu verbergen oder zu entstellen sucht. Sonnenfelds Bilder aber sind immer Schein und Wahrheit zugleich; Glück und Verzweifelung in eins. Und das nicht in pathetischer Expressivität, sondern in zerreißender Nüchternheit. Erst wir, die wir diese Bilder mehr als 50 Jahre später anschauen, wissen uns vor ihnen nicht zu helfen und verfallen auf den Vorwurf der Lüge.

Und diese Ratlosigkeit, die der Täter und Nachgeborenen, reicht bis in die Verwirrung über die journalistische Arbeit von Sonnenfeld. Der Fotograf war gelegentlich als Bildmacher und Schreiber zugleich tätig. So verfaßte er z.B. eine Bildreportage über einen jüdischen „Mutterschulkursus“: „Wie der Elefant im Porzellanladen — so etwa wirkt das Erscheinen eines männlichen Wesens im ,Mutterschulkursus‘. Im Kreise der jungen werdenden Mütter fühlt sich der junge Mann auch äußerst deplaziert, und angesichts der vielen herumliegenden merkwürdigen Requisiten, wie Milchflaschen, Windeln, Schnuller — Gegenstände also, mit denen ein erwachsener Mann nicht allzuviel anzufangen weiß —, setzt er sich still und errötend auf das letzte freie Plätzchen — ein Kinderstühlchen, versteht sich!...“, schreibt er das 1935 mit lockerem Ton; bis zum klischiert kalauernden Ende, wo die Frauen „es kaum erwarten (können), ihre frisch erworbenen Kenntnisse ,an das Kind‘ zu bringen“. Alles in einem flotten Journalismus, den man nachträglich für befremdlich und eigenartig unangemessen befinden möchte. Als hätten gnadenvoll nachgeborene Deutsche das Recht oder gar die Pflicht, Sonnenfeld — in quasi unschuldiger Schuldumschichtung — darauf hinzuweisen, er habe den Ernst der Lage nicht erkannt.

Das bringen diese Bilder fertig oder vielmehr die von Deutschen verschuldete jüdische Geschichte. Jedes Bild wird zu einem Tunnel in die Vergangenheit. Und beidem — den Bildern wie dieser Vergangenheit — kann man gar nicht gewachsen sein.

Die Ausstellung ist noch bis zum 28.Oktober im Berliner Martin Gropius-Bau zu sehen. Der Katalog kostet jetzt 28,- später und gebunden 36,- DM.