Singender Sekundant

■ Herausforderer Karpow nimmt erste Auszeit im Schach-WM-Duell gegen Meister Garri Kasparow

Als Sekundant Anatoli Karpows muß man mehr können als nur Schach spielen, merkte der ungarische Weltklassespieler Lajos Portisch. Er war es nämlich, der am Freitag um 11 Uhr 53, sieben Minuten vor Fristende, dem Schiedsrichter telefonisch die erste Auszeit des Herausforderers mitzuteilen hatte. Um sich zu identifizieren, mußte Portisch, der eine klassische Gesangsausbildung hinter sich hat, dem gutgelaunten Schiri aus den Niederlanden einige Takte ins Ohr trällern. Schon wurde er erkannt, die Auszeit offiziell angenommen.

Der Zeitpunkt war früh gewählt. Nun verbleiben dem WM-Titelanwärter Karpow nur noch zwei weitere Chancen, eine Runde zu verschieben. Aber der Vizeweltmeister hatte schon nach zwei Partien viel zu verdauen.

Beim diesjährigen Weltmeisterschaftsduell muß Karpow den Wettkampf gewinnen, um die Krone zurückzuerobern. Das bedeutet, daß er beim jetzigen 0,5:1,5-Rückstand zwei Partien mehr gewinnen muß als der Titelverteidiger, dem ein 12:12 genügt. Doch Karpow tut sich besonders mit den schwarzen Steinen schwer. Schon mit den weißen Figuren holte er in der ersten Partie aus dem Eröffnungsrecht keinen Vorteil heraus, begnügte sich schließlich mit Remis.

Was beide Spieler am Brett und alle kommentierenden Großmeister übersahen, fand tags darauf der leistungsstärkste Schachcomputer der Welt heraus: „Deep Thought“ wies nach, daß Karpow einen Gewinnweg ausgelassen hatte. Was Karpow wohl zur ersten Auszeit trieb, war jedoch die Niederlage in der zweiten Partie. Ausgerechnet seine Haupteröffnung als Schwarzspieler hatte Kasparow mit einem vorbereiteten neuen Zug aus den Angeln gehoben. So hat das Sekundantenteam alle Köpfe voll zu denken, wie ihr Chef Karpow in Runde drei mit Weiß besser eröffnen kann.

Während der Herausforderer an einem geheimgehaltenen Aufenthaltsort die vier Ruhetage nutzt, um sein psychologisches Gleichgewicht wiederzufinden, will der Weltmeister Kasparow seinen Rhythmus nicht ändern. Wie in seinem fünfwöchigem Trainingslager vor dem WM-Turnier verbringt er bis zu sechs Stunden täglich mit der Vorbereitung. Täglich geht er im Central Park spazieren, einmal die Woche in den Kraftraum. Die Auszeit, von der ihm sein Gegner natürlich so spät wie möglich Bescheid gab, überraschte ihn kaum.

Betroffener sind eher die Veranstalter: Ausgerechnet die Freitagsrunde versprach, ein Zuschauerhit zu werden. Nur noch wenige Karten blieben vom Vorverkauf übrig. Trotz der enormen Anstrengungen der US-Großmeister, Schach in den USA populär zu machen, sind es eher die hohen Geldsummen, die Publikum anlocken. Aber nicht enmal das Geld hat genügt, um die Aufmerksamkeit der Medien in höherem Maße zu wecken. Die New Yorker Presse berichtet auf den Lokalseiten. Keine Fernsehstation war bereit, eine regelmäßige Schachshow zu bringen, obgleich 1972 nächtelang das Duell Spassky — Fischer mit hohen Einschaltquoten übertragen wurde.

„Ja, damals ging es um die Konfrontation zwischen Ost und West“, erklärt US-Großmeister Seirawan. „Ich glaube nicht, daß Kasparow hier schnell als All American Hero gefeiert wird.“ Medienfavorit ist der vermeindliche Dissident gegenüber dem KPdSU-Abgeordneten Karpow jedoch allemal, denn was 40 Jahre lang galt, kann so schnell nicht falsch sein. So spottet die 'New York Post‘ hemmungslos wie in den besten Zeiten des kalten Krieges: „Nur ein mattgesetzter Kommunist ist ein guter Kommunist.“ Stefan Löffler (New York)