KOMMENTAR
: Tödliches Bad in der Menge

■ Können die Vertreter sich unter ihrem Volk noch bewegen?

Wolfgang Schäuble, schwerverletzt im Krankenhaus, setzt die Reihe der Opfer „unpolitischer“ TäterInnen fort. Der Administrator der deutschen Einheit ist zugleich das erste Attentatsopfer der neuen Bundesrepublik. Die Ostdeutschen waren von solchen inneren Nachrichten bislang verschont. Die alte Führungsgarde der verblichenen DDR sah sich selbst bei geringfügigen Anlässen als unnahbares Zentrum von mindestens drei Sicherheitsringen plaziert. Der Massenkontakt beschränkte sich auf ein abgesprochenes Kindertätscheln und das Schütteln gut sortierter Arbeiterhände. Das schien nur konsequent bei der sonstigen Volksferne.

Sollten die bundesrepublikanischen Politiker in diesem Lichte ihr volkstümliches Gebaren abtun? Die Attraktionen der westlichen Polit-Shows mußten wie der Einzug einer neuen Menschlichkeit auf die spaliergewöhnten Ostbürger wirken. Aber wenn es stimmt, daß fünfzig Prozent der Westmenschen psychisch defekt sind und die stalinistisch verformten Ostmenschen nach Maaz ohnehin alle auf die Couch müssen, sollten die Regisseure des Wahlkampfs überdenken, ob sie die ihnen anvertrauten Köpfe weiterhin als Projektionsfläche verstörter Gefühle dem öffentlichen Zugriff aussetzen wollen. Wenn es überdies stimmt, daß die Kommunikation von Vertreter und vertretenem Volk auf ein hilfloses „Wie geht's?“ — „Es geht.“ — „Na, denn geht's doch!“ degeneriert ist, sollte Nutzen und Gefahr zugunsten einer ehrlicheren Selbstdarstellung abgewogen werden. Die kühlen Deutschen wissen doch, daß sich die Verwalter ihrer Geschicke auch sonst nur sehr vermittelt mit ihnen beschäftigen. Selbst der Papst, dem der Tod nun wirklich nur ein neues Tor sein sollte, fährt zaghaft winkend im Glaspanzer durch die erregte Masse. Da könnte kleineres Kaliber ruhig noch mehr Zurückhaltung üben. Das Volk auf dem Platze würde emotionsfrei den schönen Worten lauschen und bräuchte sich nicht damit zu beschäftigen, ob Oskar schon graue Haare hat oder Helmuts Schlips wirklich bis zur Mitte des Rumpfes reicht. Stefan Schwarz, Leipzig