Politische Spuren im privaten Wahn

■ Zum Attentat auf Innenminister Wolfgang Schäuble KOMMENTARE

Wie in den USA, sagen die Kommentatoren und zählen die Namen bekannter Opfer auf. Es gibt kein politisches Motiv, sagen die Ermittler. Es ist Schizophrenie, vermuten die Ärzte. Das Erschreckende wird auf die Formel gebracht: Verrückter Einzeltäter. Aber warum nimmt der private Wahn die Form des Attentats an? Was passiert da und wie ist es verwoben mit dem, was diese Gesellschaft erfolglos verdrängt oder abzuspalten versucht? Warum meldet sich hier, und nicht mehr nur in den USA, der „verrückte Rand“ dieser Gesellschaft mit einer Waffe zur Wort?

Das Motiv entsteht zunächst im Kopf der oder des Einzelnen, in einer hermetischen Vorstellungswelt. Alles deutet darauf hin, daß Dieter Kaufmann an einer paranoiden Psychose leidet. Fühlen und Denken sind längst nicht mehr im Gleichgewicht, die Wahrnehmung reagiert auf die Außenwelt in katastrophischer Form, das Außen ist vor allem Bedrohung. „Ich fühle mich vom Staat verfolgt“, gab Kaufmann zu Protokoll. Auf eine wahnwitzige Weise war es für den 37jährigen, der bei seinen Eltern in allernormalsten bundesdeutschen Verhältnissen lebte, nur folgerichtig, am Innenminister, dem Repräsentanten der staatlichen „Verfolgungs“-Organe, Rache für sein persönliches Schicksal zu nehmen. Keine Reue, sondern Befriedigung zeigte er danach. PsychologInnen beschreiben diese Gefühlsreaktion als „kathartischen Prozeß“. Die Tat, zwanghaft und quälend ständig im Kopf, ist endlich vollbracht. Bei Adelheid Streidel, der Lafontaine-Attentäterin war es nicht anders.

Das Attentat hat so seine Bedeutung in der Vorstellungswelt des Täters und trägt zugleich seine gesellschaftliche Signatur. Neben Schrecken und Abwehr mobilisiert es die Erinnerung daran, daß es Menschen in dieser Gesellschaft gibt, die die Art des Lebens, die ihnen abverlangt wird, nicht leisten können, die versagen, sich mit Drogen betäuben, psychotische Symptome entwickeln. Sie sondern sich ab, sie vereinsamen, werden schließlich abgesondert. Streidel und Kaufmann machten für ihr Unglück Politiker verantwortlich, Leistungs- und Hoffnungsträger, die Männer, die das Sagen haben. Und auf furchtbare, tragische Weise sprechen sie damit auch etwas aus über die Verteilung von Macht und Ohnmacht bei uns. Helga Lukoschat, Berlin