Empfängnishilfe

■ »Underdog« von Jingo De Lunch und »Bouche-baiser« von den Lolitas BERLINER PLATTENTIPS

Daß Jingo De Lunch sowie die Lolitas schon so lange im Geschäft sind, jeweils ihre vierte längere Einspielung gemacht haben (ich habe mich da hoffentlich nicht verrechnet) und trotzdem noch zu den vielleicht fünf guten Westberliner Bands gehören, wirft ein eher trauriges Bild auf die Szene der ehemaligen Halbstadt.

Die Lolitas haben sich nach Alex Chilton diesmal einen anderen Hero für die Produktion von Bouche-baiser (Vielklang, EFA) geangelt. Wie sie das immer machen, bleibt ihr Geheimnis, auf jeden Fall konnte sich auch Chris Spedding nicht dem Charme der inzwischen aus nur noch drei Nationalitäten bestehenden Band entziehen. Allerdings hat Spedding ganz im Gegensatz zu Chilton aus den Lolitas wieder die Lolitas gemacht. Chilton hatte die Schnauze voll von seinem ewigen Underground-Image und produzierte die Lolitas auf ihrer 1989er Fusée d'Amour sehr glatt und gerade, fast schon im Sinne amerikanischen Mainstreams. Dabei kam zwar auch eine sehr schöne Platte raus, aber allein die französische Sprache rettete noch die Eigenheiten der Lolitas.

Mit Spedding kehren die Lolitas komischerweise zu ihrer Anfangszeit, zu solchen Hymnen wie La financée du pirate zurück, trotz des heimwehbedingten Weggangs des italienischen Gitarristen Tutti Frutti. Tex Morton, der Neue, gekommen von der norddeutschen Bikerband Lüde & Die Astros, scheint kaum Einfluß auf den neuen, alten Bandsound gehabt zu haben. Zwar sind sie bei weitem nicht so trashig wie auf ihren beiden ersten LPs, aber Spedding hat sie irgendwie einfach machen lassen, und so läßt Bouche- baiser den unter Chiltons Regie entstandenen, zwar gelungenen, aber eben untypischen Ausflug in die unendlichen Weiten des Ami-Gitarrenrock vergessen. — Da ist wieder das infantil verschleppte Getrommel von Françoise, die Kleinkindermelodien, die größtenteils melancholische Grundstimmung, und selbst bei den wenigen schnellen, fröhlichen Stücken garantiert der französische Gesang das herzige Chansonelement. Die Texte sind sowieso immer wunderhübsch, ob es nun um die Liebe zum Hausroboter geht, das Sylvester-Stallone-Poster im Zimmer oder die Bonbons, die man nicht von fremden Männern annehmen soll. Für des Französischen nicht mächtige Würstchen wie mich sind auf dem Innersleeve freundlicherweise die deutschen Übersetzungen angegeben. Ob man allerdings Fran¿oises Akzent bei der Coverversion I've Been Loving You Too Long von den Fabulous Thunderbirds billigen kann, werden Puristen sicherlich verneinen.

Fazit bleibt aber, daß die Lolitas wieder da sind, wo sie eigentlich immer hin sollten. Schön plumper Rock'n'Roll, öfter mal triefend bis zum Anschlag, trotz offensichtlicher Primitivität immer mit dem gewissen Maß an Charme und Eleganz, die nur Franzosen eigen ist. Die Lolitas sind zum Schmusen zu blöde und zum Streiten zu romantisch.

Jingo De Lunch haben ebenfalls ein nettes Produzentenproblem zu lösen gehabt. Jon Caffery mußte nach zwei Wochen Studiozeit aus Gesundheitsgründen die Produktion aufgeben, und den Jingos fiel nichts Besseres ein, als ausgerechnet Manny Charlton für die Restarbeit zu holen. Ja, genau der, der mal bei Nazareth war (die gibt's übrigens immer noch oder schon wieder oder was weiß ich). Daß dabei nichts Böses herauskam, sondern einfach nur wieder Jingo De Lunch, ist doch eher erfreulich.

Daß Underdog (Vertigo/Phonogram) vom im Titel selbst gestellten Anspruch ziemlich weit entfernt ist und in der letzten Spex befunden wurde, daß Jingo De Lunch »mit ihrer neuen LP nun endlich reif sind für das MTV Rock-Format«, liegt allerdings weniger an den Jingos oder gar an Herrn Charlton, sondern allein an der Verschiebung des MTV Rock-Formats, wo im Moment ein eher unterdurchschnittlicher AC/DC- Song bis zum Overkill runtergedudelt wird; und an einer Zeit, in der Megadeath von Null — ohne Probleme oder daß das jemanden wundern würde — unter die ersten 50 in den deutschen LP-Charts hüpfen.

Underdog ist nicht einmal, was man so nett beschönigend »die konsequente Fortentwicklung« nennt, sondern nur das sture Beharren auf dem als gut befundenen Erreichten. Sie verschließen sich konsequent der sich im Moment überschlagenden Entwicklung im Hardcore zu immer schnellerem, komplizierterem Spiel und haben irgendwie recht dabei, auch wenn sie das in ihrem zarten Alter schon zu Traditionalisten macht. Underdog ist inzwischen eine nette Rock-LP, nicht etwa weil sie die erste auf einem Major-Label ist, sondern weil sie genauso ist wie die letzte, Axe To Grind, und weil seitdem mehr als ein Jahr vergangen ist, in dem sich die Hörgewohnheiten dramatisch geändert haben.

Mittelschnelles, also im internationalen Vergleich eher moderates Tempo, der gute, durchdachte Rhythmuswechsel hier und da, der gepflegt sägende Gitarrensound, Yvonne Ducksworth Stimme klingt natürlich immer noch so überdreht, und auch zwei, drei Hits sind wieder drauf. Das ist immer noch gut bis sehr gut, aber halt das neue Ding von vor zwei Jahren. Wer also Axe To Grind oder gar die limitierte, grandiose Mini-LP Cursed Earth schon hat, kann sich Underdog sparen. Aber bevor man sich irgendwelchen anderen Rock-Scheiß zulegt, sollte man vielleicht lieber zu Altbewährtem greifen. Jingo steht für Qualität, und nie waren Qualität und Tradition so wichtig wie in diesen sich überschlagenden Zeiten. Thomas Winkler