Erotik gehört zur Grundversorgung

Osteuropa, Schlachtfeld für den zukünftigen Ätherkrieg/ „Go east“ hieß es bei den Münchner Medientagen  ■ Aus München Marina Schmidt

Mit exakten Analysen, brandaktuellen Informationen, neuen Konzepten und verläßlichen Prognosen hatte die Münchner Gesellschaft für Kabel- Kommunikation (MGK) für die Medientage '90 geworben. Mit Erfolg. Nur wenige Tage vor den Landtagswahlen lockte das umfangreiche Programm (200 Referenten aus sieben Ländern) den gesamten Medienadel mit seiner Gefolgschaft in die bayerische Landeshauptstadt. Nicht nur gut besucht, sondern restlos ausgebucht war die abendliche Diskussionsrunde „Sex und Sexberatung im Fernsehen“. In der Medienarena standen RTL-plus-Chef Helmut Thoma und seine Sexberaterin Erika Berger „ohne Netz und doppelten Boden“, so die Ankündigung, dem interessierten Publikum Rede und Antwort. Die „sachkundige“ Einführung in das delikate Thema lieferte der stark übergewichtige und bereits ins Rentenalter vorgerückte Gabriel Laub. Der Hamburger Schriftsteller gab sich ganz als Experte für Sex und Erotik, der der RTL-plus-Show Tutti-Frutti nicht viel Positives abgewinnen konnte. Sie sei bestenfalls als Anatomieunterricht für ganz junge Männer oder als Erinnerungshilfe für Alte zu gebrauchen und außerdem noch schrecklich langweilig. Für eine unterprivilegierte Minderheit habe Tutti Frutti jedoch eine wohltätige Funktion, nämlich Hilfe für die Ärmsten der Armen, die sich beim Onanieren noch nicht einmal eine nackte Frau vorstellen könnten. „Aber wenn sich drei Millionen Zuschauer für diese Sendung begeistern können und Männer sie als geil und super bezeichnen, dann sagt das mehr über die Qualität des Sexes in unserer Gesellschaft als über die Qualität der Sendung aus.“ Eher ernüchternd als erotisch sei auch das Gejammer über die Misere in den Betten in Erika Bergers Sexberatung. Aber trotzdem habe auch diese Sendung durchaus positive Folgen. „Sie hält die Voyeure von dem Lauern vor fremden Schlüssellöchern ab und versöhnt ein wenig mit der eigenen Misere.“

Für die Verbannung dieses Genres von den deutschen Mattscheiben konnte sich in der Diskussionsrunde außer der radikal-fundamentalistischen Katholikin Elisabeth Motschmann niemand erwärmen. Im Gegenteil: Erotik sei so notwendig wie die Tagesschau und gehöre damit zur Grundversorgung. So wurden die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten aufgefordert, den langweiligen Sex- und Erotiksendungen endlich etwas entgegenzusetzen. Doch der erste Versuch des Bayerischen Rundfunks mit einem Liebesbarometer hat sich bereits als glatter Mißerfolg entpuppt. „Geben Sie Ihrer Phantasie mal Zunder“, feixte denn auch Thoma, „so etwas würden wir auf unserem Kanal im Kinderprogramm vorstellen.“

Trotz aller Kritik an dem Niveau der Sendungen blieb Thoma der klare Sieger in der Medienarena. Alle waren sich einig, daß die Privaten wenigstens einen Stein ins Rollen gebracht hätten. Und nicht nur das. Sei trügen auch dazu bei, daß Tabus abgebaut würden und die trüben Hinterzimmerzeiten der Vergangenheit angehörten. Denn, so die Expertenrunde: „In Deutschland ist Sex ein trauriges Kapitel.“

Als trauriges Kapitel der Münchner Medientage entpuppte sich der „Deutschlandtag“ unter dem Motto „Zeit des Umbruchs, Zeit des Aufbruchs! Rundfunk im Deutschland der 90er Jahre — In welchen Formationen ist das System funktionsfähig?“ Wer von dieser Veranstaltung die versprochenen brandaktuellen Informationen oder neue Konzepte erwartete, wurde bitter enttäuscht. Die Geschwindigkeit der deutsch- deutschen Ereignisse hatte die Veranstalter überrollt.

Zunächst ließ sich Gottfried Müller, angekündigt als DDR-Medienminister, entschuldigen, denn sowohl die DDR als auch das Medienministerium hatten sich bereits eine Woche zuvor aufgelöst. In die Bresche sprang sein ehemaliger Stellvertreter Rolf Bachmann, der zwar keine neuen Konzepte, aber eine erfrischend ehrliche Selbsteinschätzung lieferte: „180 Tage hat das Medienministerium existiert. Rechnet man die Wochenenden und die Zeit, die wir damit verbracht haben, Fehler zu machen und diese wieder zu korrigieren, ab, so bleibt nicht viel übrig.“ In bekannter Manier klopften sich dagegen einige Intendanten von ARD und ZDF kräftig auf die eigenen Schultern. Denn ihr Konzept eines föderativen, staatsfernen und unabhängigen Rundfunks habe sich ja schließlich glänzend bewährt und nicht unerheblich zur friedlichen Revolution beigetragen. Wie weit es wirklich mit der Unabhängigkeit und Staatsferne einiger Sender her ist, wurde unter den Tisch gekehrt, während gleichzeitig die über die Grenzen des Freistaates Bayern hinaus bekannte Verfilzung zwischen dem BR und der CSU im Münchner Wahlkampf ein heißes Thema war. Daß ausgerechnet der SFB-Intendant Lojewski seine Anstalt für das besondere Engagement in den Bereichen Integration der Ausländer und Erhalt der Kiezkultur loben durfte, ließ zumindest den Kennern der Berliner Abendschau die Haare zu Berge stehen.

Für alle Referenten lagen die Zutaten für das neue gesamtdeutsche Rundfunkkonzept klar auf der Hand: Föderalismus, Staatsferne und Dualismus. Das bedeutet Auflösung der zentralistischen Rundfunkanstalten der DDR und deren Überführung in (Mehr-) Länderanstalten bis 1991, neue Konzepte für die drei Anstalten Deutsche Welle, Deutschlandfunk und RIAS, sowie die Erstellung eines Verteilungskonzeptes für die frei werdenden terrestrischen Frequenzen.

Neue Ideen hatte jedoch niemand zu bieten. Diskussionsbestimmend war der altbekannte Machtkampf zwischen den Öffentlich-Rechtlichen und den Privaten über die Ausdehnung der Sendegebiete. Bereits zur Eröffnung der Medientage hatte SAT.1-Chef Jürgen Doetz mit seiner Bemerkung, ARD und ZDF würden wie die Raubritter in die ehemalige DDR einfallen, für heftige Reaktionen gesorgt. Für seine Klageweiber- Mentalität bekannt, jammerte er wie üblich über die Zweiklassengesellschaft im Rundfunk und die Etablierung eines öffenlich-rechtlichen Medienmonopols im Osten. Unerwartete Unterstützung bekam er dabei von Postminister Schwarz-Schilling, der nach einem Schuldigen für seine gescheiterte Satellitenpolitik suchte. So drohte er den öffentlich- rechtlichen Anstalten, den Spieß jetzt umzudrehen und terrestrische Frequenzen nur zu verteilen, wenn ARD und ZDF mit ihrem Ersten und Zweiten Programm auf den TV-Sat gingen.

Um in diesem Ätherkrieg die Kräfte zu bündeln, schlossen sich die privaten Anbieter in der vergangenen Woche zu einem gemeinsamen „Verband privater Rundfunk- und Telekommunikation“ zusammen. PeterScholl-Latour, Präsident des Verbandes, dem 200 Medienunternehmen angehören, sah denn auch „in den osteuropäischen Ländern das Schlachtfeld für einen kommenden Ätherkrieg. Da stehen uns interessante Zeiten bevor“, freute sich der ehemalige Kriegsberichterstatter. Auf dem Kampfplatz zwischen dem „Deutschen Intendantenorden“ und der Speerspitze des privaten Rundfunks wirkten die Vertreter aus der ehemaligen DDR recht verloren. Umgeben von erprobten Kriegern wagten sie sich kaum in die Offensive. Ihr Kampfgeist schien gerade auszureichen, die eigene Haut zu retten.

Selbstbewußter zeigten sich da die Kollegen aus Polen und der Sowjetunion während des „Europatages“, der die neue Wirklichkeit der Medien in Europa zu analysieren suchte. TASS-Generalsekretär Leonid Krawtschenko ging sogar so weit, die Medien in seinem Land inzwischen als vierte Gewalt zu bezeichnen. Das neue Pressegesetz (seit dem 1. August in Kraft) schreibe den Massenmedien eine Schlüsselrolle im Demokratisierungsprozeß zu. Das Gesetz beseitige jegliche Zensur, erkläre die Presse für frei und lasse private Presse und Rundfunkveranstalter zu, so Krawtschenko. Vor dem Hintergrund, daß Information heutzutage eine größere Ressource ist als Kapital oder Arbeitskraft, baut die Nachrichtenagentur TASS ein neues Satellitennetz auf. Damit will sie neue Arten und Formen von Informationsdiensten an Agenturen, Behörden und Firmen im In- und Ausland verteilen. Während sich die Vertreter aus der Sowjetunion sehr zufrieden und optimistisch über die Situation ihrer Medien äußerten, blickten sie jedoch besorgt auf die wirtschaftliche Lage. Dort habe Glasnost und Perestroika bisher nicht die gewünschte Durchsetzungskraft gezeigt. Die äußerst angespannte Situation drohe das Land in Chaos und Anarchie zu stürzen und damit die bereits erzielten Erfolge zu vernichten.

Ähnlich prekär ist die Lage in Polen, berichtete der stellvertretende Vorsitzende des polnischen Fernsehens: TVP, bis zum letzten Jahr staatlich finanziert, kämpft um jeden Pfennig Rundfunkgebühr. Da der Lebensstandard um 20 bis 30 Prozent gesunken ist, sind viele Haushalte nicht willens oder in der Lage, die neu eingeführten Gebühren zu zahlen. Die Einnahmen aus der Werbung reichen jedoch nicht zur Deckung des Finanzloches. Stand das polnische Fernsehen früher unter der Fuchtel der Partei, so ist man heute kaum in der Lage, die gewonnene Freiheit in entsprechende Programme umzusetzen.

Nicht finanzielle Gründe sind es, die das grenzüberschreitende europäische Fernsehen behindern. Das Problem ist hier, daß bisher kaum jemand in der Lage ist, europäische Sendungen zu entwickeln. Bis auf den geplanten deutsch-französischen Kulturkanal Canal Plus, den viele bereits vor seiner Realisierung als veraltet betrachten, ist kein weiteres Projekt in Sicht. Nur die Eurovision plant einen europäischen Nachrichtenkanal, doch der fand auf dieser Veranstaltung keine Beachtung.

Stand bis vor kurzem die Entwicklung von Gemeinschaftsprogrammen in der EG im Mittelpunkt der Diskussion, so lockt heute der neu zu erobernde osteuropäische Markt. Das Interesse der Medienmacher hat seine Richtung geändert. „Go east“ ist angesagt.