"Wenn ich jemand anderes wäre, ich würde mich beneiden"

■ Am Sonntag starb der "letzte Große in der Musikwelt", der amerikanische Dirigent, Komponist und Pianist Leonard Bernstein in New York

Berlin (taz) — Ein Zucken der rechten Schulter, das sind die Bratschen. Der linke Ellbogen — die Violinen, der Unterarm — die Holzbläser, der kleine Finger — die Piccolo-Flöte. Die Celli sitzen im Nacken, das Blech im rechten Fuß, die Bässe in der Bauchmuskulatur. Bernstein hat das Orchester in sich. Man sieht nur seinen Rücken und weiß genau, daß er noch mit Nasenflügel und Augenbrauen die Nebenstimmen markiert. Der Mann dirigiert nicht, er tanzt. Ein Stampfen erst und dann Ballett, ein Peitschenhieb mit dem Taktstock und im nächsten Moment steht er auf Zehenspitzen wie eine Primaballerina, und dann ist auch das wieder vorbei: Geschlossenen Auges lehnt er sich zurück und schwelgt im Pathos, um flugs den Stab zwischen die Zähne zu klemmen und einen halben Meter in die Höhe zu springen: „Freiheit schöner Götterfunken.“ Das war Weihnachten in der Berliner Philharmonie, Bernsteins Fest für den Fall der Mauer. Die Beethoven- Forscher werden mit den Zähnen geknirscht haben ob des Amerikaners eigenwilliger Änderung der „Ode an die Freude“, wie die Karajan-Fans seine Neigung zu Glamour und Kitsch schon immer kritisierten.

Aber was keinem sonst erlaubt ist, „Lenny“ darf das. Nicht weil er der Tausendsassa „everybody's darling“ war, sondern weil er, mit allem was er tat (als Dirigent, Pianist, Komponist, Lehrer und Autor), bewies, daß Musik mehr ist als Wohlklang. Anders als Karajan war der „Fünfkämpfer der Tonkunst“ ('Spiegel‘) kein Geschäftsmann und kein Manager. Liveaufnahmen mit Publikumshustern und Pultgepolter waren ihm lieber als das aseptische Studio, die Trennung zwischen Klassik und Unterhaltung hat er nie akzeptiert, und im Zweifelsfall siegte immer die Rührung über die Perfektion. Soll einer mal probieren, bei der „West Side Story“ nicht in Tränen auszubrechen. „Der letzte Große in der Musikwelt“, nennt ihn Helmut Stern, Orchestervorstand der Berliner Philharmoniker jetzt, und groß war er vor allem in diesem seinem — typisch amerikanischen — Beharren auf Emotion: Musik als Liebeserklärung, als Mitteilung von Menschen an Menschen. Nicht den „philharmonischen Klang“ suche er, sondern den „Klang des Komponisten“, hat er einmal gesagt und mit seinem Credo die Musikindustrie und den Fetisch „High-Fidelity“ Lügen gestraft.

Bernstein wurde am 25. August 1918 in Lawrence/Massachusetts als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer geboren. Eigentlich sollte er wie sein Vater in der Kosmetikindustrie Karriere machen, aber dann stellte Tante Clara ein Klavier bei den Bernsteins unter. Er lernte dirigieren bei Serge Koussevitzky und Fritz Reiner (Bernstein: „Er benutzte einen langen Taktstock und bewegte seinen Körper kaum. Man konnte kaum erkennen, daß er dirigierte.“) und wurde über Nacht berühmt, weil Bruno Walter mit Grippe im Bett steckte. Am 14. November 1943 sprang der damals 25jährige für den Kollegen bei den New Yorker Philharmonikern ein — der Beginn seiner Karriere als der erste amerikanische Dirigent von Weltruhm, der sich außerdem zeitlebens für amerikanische Komponisten wie Charles Ives und Aaron Copland engagierte.

Nach dem Krieg half er beim Aufbau des Israel Philharmonic Orchestra und wurde um ein Haar deren Chefdirigent. „Ich erinnere mich: 1948 waren wir eine Woche in Jerusalem während der Belagerung der Stadt. Wir waren vollkommen eingeschlossen, aber wir haben kein einziges Konzert ausgelassen. Wir spielten in einem Kino, dem „Edison- Theatre“, das keine Hinterbühne hatte. Ich dirigierte Beethovens „Leonoren-Ouvertüre“ mit dem Trompetenruf von draußen, und so mußte ich den Trompeter auf die kleine Straße hinausschicken hinter dem Saal. Er setzte nicht ein. Man hatte ihn festgenommen mit Rücksicht auf das Konzert. Dabei krachten die Geschütze ringsum. Fünfhundert Meter entfernt war die Front, und ich wartete auf das Trompetensignal. Ich hielt den Ton zum Einsatz minutenlang aus. Dann erklang endlich die Trompete, man hatte den Jungen laufen und blasen lassen. Ich habe so eine ,Leonore‘ nie wieder gehört.“

1957 wurde, nach „On the Waterfront“ und „Candide“ die „West Side Story“ uraufgeführt, von 1958 bis 69 leitete er die New Yorker Philharmoniker in insgesamt fast 1.000 Konzerten: die Abonnentenzahlen stiegen um 50 Prozent. Im Fernsehen wurden seine „Young People's Concerts“ übertragen, er dirigierte zahlreiche Uraufführungen und spielte unter anderem den kompletten Mahler ein. Dessen extreme Vortragsanweisungen — „Soviel wie möglich“ — haben ihn fasziniert, ebenso dessen „Jüdischkeit“, wie er selbst es nannte. Wagner? „Ich hasse ihn auf Knien.“

Bernstein hatte Talent, sich politisch unbeliebt zu machen. In seinem ersten Zeitungsartikel setzte er sich 1947 mit dem Ausschluß der Schwarzen aus der amerikanischen Musikszene auseinander, er dirigierte „Black-Panther“-Benefiz-Konzerte, spendete die Hälfte seiner Honorare „Amnesty International“, leistete sich 1985 einen peinlich-sentimentalen Auftritt zum Jahrestag von Hiroshima, engagierte sich für Aidskranke und mied das Weiße Haus, kaum daß Reagan dort eingezogen war.

Er konnte nie genug kriegen. Er trank, liebte die Frauen — und man sagt, auch die Männer — und rauchte 100 Zigaretten am Tag; seine Fans demonstrierten in New York einmal mit dem Transparent:. „We love you — stop smoking“. Am vergangenen Dienstag diagnostizierten die Ärzte ein Lungenemphysem, einen Rippenfelltumor und mehrere Lungeninfektionen. Also wollte er fürs erste den Taktstock hinlegen, und seine neue Oper und die Memoiren fertigschreiben.

Bernstein sagte von sich, er sei glücklich. „Wenn ich jemand anders wäre, ich würde mich beneiden.“ „Ich habe nicht nur ein Leben gelebt, sondern fünf. Wenn ich in zehn Minuten sterben müßte, würde ich nicht protestieren.“

Am Sonntag ist sein Herz stehengeblieben. Christiane Peitz