Towarischtsch, laß das Schießen sein

■ In Jüterborg und Luckenwalde machen Lärmgestreßte gegen sowjetische Schießplätze und Tiefflieger mobil/ Angedroht: Gasballons, Bockaden, notfalls Einkaufsverbot für sowjetische Kunden/ »Uns tyrannisiert nicht der Russe, sondern das Gerät«

Petkus. »An Kohl!« »An de Maizière!« »An den Ministerpräsidenten von Brandenburg!« »Und an Genscher etwa nicht?« — Stürmische Lagebesprechung im Hinterraum der Gemeindeverwaltung von Petkus, einem Dorf mit 765 Einwohnern, gut 60 Kilometer südlich von Berlin gelegen. Gesucht wird nach prominenten Politadressaten für geharnischte Protestbriefe. Die Bewohner des Niederen Flämings zwischen Luckenwalde, Jüterborg und Baruth sind empört darüber, daß der Betrieb auf den benachbarten sowjetischen Truppenübungsplätzen auch nach der deutschen Vereinigung voll weitergeführt wird. Tiefflieger sausen über die Hausdächer, und das dumpfe Ballern der Artilleriegeschosse auf dem Übungsplatz »Heidehof« dauerte in der vergangenen Woche teilweise bis kurz vor Mitternacht. Jetzt sollen die Briefe an Landes- und Bundespolitiker verfaßt werden. Tenor der Zeilen: Entweder ihr helft uns, oder wir werden militant. In das Repertoire des angedrohten Fläming-Protestes gehören das Aufsteigenlassen von Gasballons über Tieffluggebieten, Straßenblockaden vor Garnisonseinfahrten und — als letztes Mittel — das Einkaufsverbot für sowjetische Kunden in einheimischen Läden.

Die Petkuser Bürgermeisterin Iris Reppmann (parteilos) ermahnt das gute Dutzend Bürgerbewegte im Hinterraum der Gemeindeverwaltung, auf dem Boden zu bleiben. »Wir wollen, daß die Russen mit uns reden«, sagt sie. Ihr liegt eher an der Wiedereröffnung von Straßen durch das Sperrgebiet als an ausgefeilten Formulierungen. Kontakt mit den Sowjets gab es nur in Ausnahmefällen. So im Januar, als ein MiG-27- Jagdbomber zwischen Petkus und dem Nachbardorf Wahlsdorf abgestürzt war und der Kommandeur des Übungsplatzes sowie ein überlebender Pilot erschienen. »Das war das einzige Mal, das sie sich hergewagt haben«, stellt die Bürgermeisterin nüchtern fest. Ein Vertreter vom Bündnis 90 berichtet von anderen Beinahekatastrophen. Der jüngste Fall: Am 28. September explodierte 300 Meter vom benachbarten Merzdorf entfernt eine Hubschrauberrakete. Wie durch ein Wunder kam niemand zu Schaden. In der gut 30seitigen Dokumentation, die der Bündnis-90-Mann in den Händen hält, wird berichtet, daß ein ganzer Straßenzug eines Fläming-Dorfes regelmäßig von Granatsplittern übersät wird. Unfälle, so steht es in dem Papier, gab es in den achtziger Jahren zuhauf. Allein bei dem Bahnunglück am Bahnhof Zinna vor knapp drei Jahren — ein D-Zug knallte da auf einen sowjetischen Panzer — kamen acht Menschen ums Leben.

Die Bürgerbewegungen fordern jetzt dringend ein Ende dieses Militärgrusels und einen geordneten Rückzug der »Westgruppe« der Roten Armee. Das soll ein Aufräumen der verwüsteten und verseuchten Übungsgelände beinhalten. »Was uns tyrannisiert, ist nicht der Russe, sondern das Gerät«, befindet einer der Versammelten mit märkischer Knappheit. Bisher wird jedoch weitergeballert und -geflogen. Pfarrer Wilfried Flach von der »Umweltgruppe Urstromtal« berichtet mit leiser Stimme, daß im Dorf Groß- Ziescht das nächtliche Tieffliegergedröhne durchschnittlich mit 63 Dezibel zu Buche schlage. Normal seien nach einem Gutachten der Bezirkshygieneinspektion Potsdam in dörflichen Gebieten 45 Dezibel. Kein Schlaf also ohne Ohropax, zumal bei den Messungen das Artilleriegeballere nicht berücksichtigt wurde.

Theologe Flach macht auch auf die katastrophale Umweltsituation aufmerksam. Seit dem »raubbaumäßigen« Abholzen eines Teils des riesigen »Heidehof«-Übungsplatzes Anfang der achtziger Jahre seinen Bodenerosionen, Sandstürme und ein Rückgang der Niederschlagsmengen zu beobachten. Früher hieß die Gegend um den 178 hohen Golmberg bei den Ausflugsberlinern »Klein-Harz« — ob von diesem idyllischen Minigebirge noch viel übrig ist, bezweifeln im Niederen Fläming inzwischen viele.

Vor Mitternacht werden bei der Bürgerversammlung in Petkus noch die Protestschreiben ausgearbeitet. Sie gehen an Kohl, de Maizière, Stolpe und — selbstverständlich — auch an Genscher. Draußen ist es den ganzen Abend über totenstill. Die sowjetischen Militärs scheinen sich an das Wochenendflugverbot zu halten, das der Außenminister und der sowjetische Botschafter Terechow tags zuvor im Rahmen des Stationierungsvertrages vereinbart haben. Christian Böhmer