Gewißheiten fahren lassen

■ Der Ertrag des 25.Deutschen Soziologentages in Frankfurt

Gespräch in der Mittagspause:

Warum solle Berlin das Schicksal Paris' und Londons erspart bleiben, Reiseziel und Lebensort Hunderttausender aus Osteuropa und anderen ärmeren Weltgegenden zu werden? Die leidliche Koexistenz verschiedener Nationalitäten, Hautfarben und Sitten in West-Berlin werde rasch auch im Osten sich ausbreiten. Darauf der Kollege von der Ostberliner Akademie der Wissenschaften mit erschrockener Abwehr: Nein, nein, das sei nicht wünschenswert für die Gesellschaft der ehemaligen DDR. Das war das Thema Ralf Dahrendorfs: Die Angst vor der Freiheit in der offenen Gesellschaft, einer Freiheit, deren konkrete Figur der Flüchtling ist. „Das tragischste Symptom des Wandelns liegt in der Person gewordenen reinen Mobilität, der Mobilität an und für sich sozusagen, nämlich den Millionen von Flüchtlingen, die jetzt durch die einstige Sowjetunion, durch ganz Europa und durch die Welt irren. Sie sind möglicherweise die Sozialfigur der Zeit. Wer noch verwurzelte Strukturen hat, schließt sich gegenüber den Flüchtlingen ab.“ Der Nationalismus derer, die unter ihresgleichen bleiben wollen, ist, so Dahrendorf, das Gegenteil von Nation als Rechtsstaat, ist vielmehr identifizierende und totalitäre Unduldsamkeit. „Aus ganz Gleichen entsteht kein Staat“, wußte schon Aristoteles.

Der theoretische Gewinn dieses 25.Deutschen Soziologentags: zwei lange Zeit fraglose soziologische Gewißheiten wurden erschüttert. Erstens der Glauben, daß durch den weltweiten Prozeß der Industrialisierung die Menschen der politischen, Rechts- oder Chancengleichheit nähergekommen seien. Und zweitens das Dogma, daß die Industriegesellschaft eine „Kleinfamiliengesellschaft“ sei. Ulrich Beck zog sich den Unmut der versammelten Familiensoziologen zu, als er im Eröffnungsvortrag sagte: „Ich bin sicher, daß auch dann, wenn 70 Prozent der Haushalte in Großstädten Einpersonenhaushalte sind (und das nicht mehr lange hin), unsere tapfere Familiensoziologie mit Millionen Daten beweisen wird, daß diese 70 Prozent nur deshalb allein leben, weil sie vorher und nachher in Kleinfamilien leben“. Becks Kritik wurde bestätigt durch zwei Berichte aus China und aus Kalifornien. Gudula Linck sprach über die unerwarteten Folgen der Einzelkindpolitik in China und Judith Stacey über die postfamiliären Lebensweisen schwarzer und weißer Unterklassenfrauen in Silicon Valley. In China sei zwar das Bevölkerungswachstum gebremst worden, aber die Krisen zwischen Frauen und Männern, Alten und Jungen, Städtern und Bauern verschärfen sich. Vor allem den Jüngeren sei Resignation ins Gesicht geschrieben; sie lehnen die traditionellen Sozialtugenden ab, gründen keine Kleinfamilie, sondern orientieren sich an westlich- individualistischen Vorbildern. Am liebsten wollen sie weg.

Wenn es in den USA eine Familienkrise gebe, so Stacey, sei es eine Krise der Männer, die keine Ganztagshausfrauen mehr finden. Nach mehreren Männern, Kindern und Jobs habe dieses Modell bei vielen Frauen ausgedient.

Gerade weil es dem Kapital egal ist, ob der Mehrwert von braunen, gelben oder weißen Händen, von Männern oder Frauen erwirtschaftet wird, treten diese Unterschiede um so schärfer hervor. Außerhalb des Jobs besteht zu Assimilation, Gleichheit und Integration wenig Lust (weder in den USA noch in West- und Ostdeutschland). Die, so Stefan Hradil, scheinbar „vormodernen“ Unterschiede des Geschlechts, der Hautfarbe, des Alters und der Herkunft werden erst jetzt, unter dem Druck postindustrieller und postfamiliärer Modernisierung, richtig hervorgetrieben und thematisiert. Und davor haben bislang homogene und einfarbige Gesellschaften wie die der DDR Angst.

Viel war die Rede von Individualisierung — sei es als Lebenslauftheorem oder als Versuch, Massenschicksale am Einzelfall zu erklären. Hier hackte Ulrich Oevermann ein, einer der wenigen 68er mit ungebrochener theoretischer Leidenschaft: Es fehle vielmehr eine Theorie der Individuierung, die erkläre, was ein Individuum macht, um die ihm abverlangten Differenzierungs- und Strukturierungsleistungen zu bewältigen, um sich vom Druck der Anforderungen eben nicht weiter zerteilen (dividieren) zu lassen. Oevermann plädierte für eine „rekonstruktive Theorie“ und „mäeutische Soziologie“, die sich von der Wirklichkeit stärken oder schwächen lasse, statt umgekehrt sich einzubilden, mit vielen empirischen Daten zugleich die Wirklichkeit im Griff zu haben.

Ein derart verbindliches, selbstreflexives Verhältnis soziologischer Theorie zu ihrem Gegenstand wurde auch von Burkhart Lutz, Ludwig von Friedeburg, Hans Joas und Karl- Siegbert Rehberg in klugen, gelegentlich brillanten Vorträgen reklamiert. Rehberg z.B. warnte vor der leichtfertigen Rede vom „Verschwinden des Sozialen“, die rasch zur Apologie totalitärer Systeme geraten könne, in denen in der Tat kein Platz ist zwischen Einzelmensch und Staatspartei. Freilich gab es auch Beiträge, die dieses Niveau locker unterboten, dabei aber durchaus zur guten Stimmung des Kongresses beitrugen.

Wolfgang Zapf lobte die „vier kleinen Drachen“ Südostasiens dafür, daß ihr Aufschwung die Modernisierungstheorien belebt habe. Das war als Ermunterung gedacht für die Kollegen aus den „fünf neuen Bundesländern“. Erwin K. Scheuch, seit 25 Jahren bekannt für unbeiirbar abwegige Thesen, enttäuschte auch diesmal nicht. Deutschland sei keine Industriegesellschaft, weil nur 10 Prozent der Fläche mit Industrie bebaut sei, aber je 30 Prozent Ackerland und Wald seien, mehr Wald als im Mittelalter.

Niklas Luhmann schließlich entzückte das Publikum mit seiner Methode, Bekanntes mit neuen Mitteln anders und neu darzustellen. Kostprobe: „Stabilität wird dadurch gewährleistet, daß für alles, was wir vorfinden, nur begrenzte Einsatzmöglichkeiten in Betracht kommen. Man kann umziehen, aber nur, wenn man eine andere Wohnung gefunden hat. Wenn das individuell verfügbare Auto nicht mehr möglich oder nicht mehr erlaubt ist, muß man es durch andere Verkehrmöglichkeiten ersetzen. Man kann sich nicht statt dessen mit Schaukelstühlen begnügen“. — In Zukunft vielleicht doch, mit einer Cyberspace-Simulation der Reise, die man dann nicht mehr machen muß. Die Soziologie jedenfalls hält fest am Unterschied zwischen Realem und Imaginärem.

Die Soziologen aus der DDR scheinen freilich mit diesem Unterschied noch Schwierigkeiten zu haben, jedenfalls ihr Vorsitzender Hansgünter Meyer. In einer Mischung aus Reisekaderroutine und Selbstmitleid klagte er, daß in der Ex-DDR mehr zerfalle als sich wandle, bat aber im gleichen Atemzug darum, „mit Blick auf die Jugend“ nicht nur vom Verfall zu reden. Er raunte von den guten Arbeiten, die jetzt aus den Schubladen gezogen würden, aber mitgebracht hatte er keine. Meyer schwärmte davon, mit den Kollegen im Westen eine „Gelehrtenzunft“ bilden zu können und bat darum, den 100 besten Absolventen eines Jahres jeweils mit staatlichen Berufseinstiegsprogrammen zu helfen.

Wie naiv, das gibt's nicht einmal bei uns. Den Wissenschaftlern aus der DDR fehlt offenbar jede Erfahrung und jeder Begriff eines öffentlichen Diskurses ihres Fachs. Sie wissen noch nicht, daß die universitäre, studentische und öffentliche Diskussion die Soziologie mit konstituiert.

Mit Hinweis auf Bloch, Havemann und Bahro sagte Meyer: „Man hielt nichts von Kamikazeunternehmen“ und klassifizierte dreist sich selbst knapp unter diesen Verwegenen ein. Er zitierte einen SED-Minister, der gesagt hatte: „Wir werden euch Soziologen schon noch zu Menschen machen. Im Augenblick nimmt nicht einmal ein Hund einen Knochen von euch“. Ähnliches schrieb die 'FAZ‘ auch bei uns über die linken Soziologen, aber die hatten Knochen. Die Soziologie aus der DDR ist leider zur Zeit weder zur Beschreibung noch zur Analyse der Gesellschaft fähig, die in den „fünf neuen Ländern“ zugleich zerfällt und sich neu zusammensetzt. Sie ist noch befangen in den Kategorien des Imaginären; des geschlossenen, hierarchisch durchstrukturierten Systems: Oben die herrschende Klasse, in der Mitte die Produktion, unten das Soziale: Frauen, Jugend, Versorgung, Befindlichkeiten. Gewißheiten fahren zu lassen, ist Voraussetzung moderner Soziologie. Hermann Pfütze