Vor dem politischen Scheitern

■ Über die Versuche der SPD, sich selbst die Niederlage zu erklären KOMMENTARE

Die SPD hat nicht nur eine alarmierende Wahlniederlage erlitten; sie hat auch in der Öffentlichkeit schlechte Zensuren dafür bekommen, wie sie ihren Schock am Sonntag abend wegreden wollte. Zu recht. Der Verweis auf die schwache Parteiorganisation im „Beitrittsgebiet“, wie es im Einigungsvertrag heißt, ist jämmerlich. Das war vorher schon bekannt. Und nach einer derartigen Schlappe müssen schon ein paar wirklich aufklärende Worte verloren werden, warum eine neue DDR-SPD für die Massen so wenig attraktiv war. Noch erbärmlicher ist es, das Ergebnis zu beschönigen und die relativen Erfolge gegenüber der Volkskammerwahl vom 18. März herauszustreichen. Die demagogische Konstellation der D-Mark-Wahl — überflüssig zu betonen — gab es schließlich nicht mehr. Natürlich liegt es nahe, am Vorabend der entscheidenden Parlamentswahlen möglichst die Zeichen zu vertuschen, die zeigen, wie sehr man angeschlagen ist. Aber es fragt sich gegenwärtig entschieden, ob diese öffentliche Demonstration der Immunität gegen Schläge Sinn macht und der Partei nützt. Es geht wahrscheinlich jetzt gar nicht mehr darum, die Wahlkampftaktik für den Dezember zu glätten; es geht vielmehr darum, die Partei politikfähig zu machen für die Zeit danach. Aus einer Niederlage wird erst dann ein politisches Scheitern, wenn man sich hastig auf eine Theorie einigt, die die Unbequemlichkeit erspart, das Desaster in seiner ganzen Tragweite zu erkennen. Bei dieser Theoriebildung sind die SPD und ihr Kanzlerkandidat schon beträchtlich weit vorangeschritten.

Das zentrale Wahlkampfthema für die SPD waren die Kosten der Einheit. Es ist purer Selbstbetrug, sich vorzumachen, der Wähler habe die Bedeutung nicht erfaßt. Von den 61 Prozent der sächsischen Industriearbeiter kann man ruhig annehmen, daß sie sich sehr wohl bewußt sind, was sie individuell für die Einheit bezahlen müssen. Schließlich ist ein Teil schon arbeitslos und die Mehrheit macht Kurzarbeit. Dennoch haben sie die CDU gewählt. Und von den anderen Kosten kann man sagen, daß jeder im Land weiß, daß es mehr kosten wird. Der Streit um die Steuererhöhung ist vordergründig, ist bloß Wahlkampf. Das scheinen die Wähler ganz genau begriffen zu haben. Die Kostenfrage der Einheit wird auf jeden Fall — bei großem taktischem Gezänk — durch einen allgemeinen Parteienkonsens gelöst werden. Nicht das Kostenthema hat die Partei nicht verständlich machen können, sondern die Partei selbst kann sich nicht mehr verständlich machen. Der tatsächliche Einigungsprozeß beginnt jetzt. Daß eine Verwaltung aufgebaut werden muß, ohne Verwalter zu haben; daß Rechtssysteme übernommen werden müssen, ohne sich auf eine Rechtstradition berufen zu können — das alles beherrscht den Alltag der ehemaligen DDR. Was die SPD da anbietet, ist völlig unklar. Klar ist, was die CDU anbietet: Regelung, ohne die Menschen bei der Neuorganisation ihrer Probleme weiter zu beanspruchen. Zum dritten Mal in diesem Jahrhundert muß unter neuen politischen Bedingungen ein Staatsapparat integriert werden. 1918 ist die neue Republik damit gescheitert, den wilhelminischen Beamtenapparat zu intergrieren. 1945 gelang es der CDU, auf moralisch bedenkliche Weise mit der Nazibeamtenschaft einen sozialen Frieden herzustellen. Ab 1990 wird die realsozialistische Bürokratie integriert. Es scheint, daß auch dieses Mal die SPD keine ernsthafte Alternative hat. Klaus Hartung