Die Golfkrise als Chance?

■ Eine saudische Sozialwissenschaftlerin über die Folgen der Präsenz US-amerikanischer Truppen in ihrem Land INTERVIEW

taz: Seit mehr als zwei Monaten sind amerikanische Soldaten bei Ihnen in Saudi-Arabien „zu Gast“. Was denken die Leute darüber?

Khadiga S.: Sie werden überrascht sein, wenn ich Ihnen sage, daß es liberale, gebildete Leute gibt, die sich darüber freuen. Diese Leute haben durchaus die Hoffnung, daß die amerikanische Präsenz positive Veränderungen in der saudischen Gesellschaft bewirken wird, vor allem im Hinblick auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit und die Freiheit der Wahl von Bekleidung und Lebensstil.

Können Sie das genauer erklären?

Ich erzähle Ihnen eine Geschichte: Meine Freundin sagte kürzlich zu mir: „Ich werde keinen Tschador mehr tragen. Und wenn ein Polizist oder ein Scheik mich fragt, warum ich keinen Tschador trage, werde ich ihm sagen: ,Geh und frag Deine Blondinen!‘“ Viele Leute versuchen die Situation zu nutzen, um Veränderungen für sich durchzusetzen. Insbesondere die Frauen wollen endlich allein das Haus verlassen dürfen, mit Kollegen oder Kommilitonen zusammensitzen, wollen zusammen in die Uni gehen, zur Arbeit, ins Café oder ins Kino.

Das heißt, daß die Stimmung gegenüber den Amerikanern durchaus freundlich ist?

Nein, nein, überhaupt nicht! Neulich habe ich im Souk folgendes erlebt: Ein saudischer Händler sagte zu einem amerikanischen Soldaten: „Kauf! Kauf! Morgen werden wir euch eure eigenen Grabstätten verkaufen!“

Gibt es jetzt die Chance zu einem Aufruhr oder zur Entstehung einer starken Oppositionsbewegung?

Die Sache ist die: Es gibt in Saudi- Arabien keine politischen Organisationen. Natürlich hatten die Leute auch schon vor der Ankunft der Amerikaner das Gefühl, daß ihre Situation schlecht ist, daß etwas geändert werden muß. Und die amerikanische Präsenz hat dieses Gefühl verstärkt. Aber zugleich sind alle ratlos, niemand weiß, in welche Richtung man sich bewegen soll, und die Mehrheit hat natürlich Angst vor Repressionen.

Von welcher Seite könnte Gefahr für die herrschende Familie aufkommen?

Die größte Gefahr für die herrschende Familie droht sicherlich von den Schiiten, die im Osten Saudi- Arabiens leben. In diesem Gebiet gibt es Öl, und die meisten seiner schiitischen Bewohner unterstützen den Iran. Die iranische Position hat hier großen Einfluß. Nach der irakischen Invasion konnte es sich die saudische Regierung daher nicht leisten, die kuwaitischen Schiiten aufzunehmen — sie haben sie nach Bahrain reisen lassen, wo die Bevölkerungsmehrheit ohnehin schiitisch ist. Natürlich hat die herrschende Familie auch Angst vor den Ausländern, die in Saudi-Arabien arbeiten, besonders vor den Palästinensern, den Jordaniern und den Jemeniten. Die saudische Regierung hat bereits Tausende von Mitgliedern dieser Nationalitäten ausgewiesen, obwohl sie zumindest den Jordaniern und Palästinensern gar nichts vorwerfen konnte. Die Jemeniten hatten ein paar Demonstrationen gegen die saudische Politik organisiert.

Einen Tag nach der irakischen Invasion in Kuwait und vor der Ankunft der amerikanischen Truppen hat die Regierung die Gebiete von Nuweibeh und Jubeil evakuiert. Dort leben die Ölarbeiter. Die meisten von ihnen sind Ausländer. Erst nachdem die Amerikaner angekommen waren, hat die Regierung den Bewohnern dieser Gebiete die Rückkehr in ihre Wohnungen erlaubt. Natürlich haben auch die Arbeiter aus westlichen und asiatischen Ländern Angst vor einem chemischen Krieg. Deshalb wollen sie zurück in ihre Heimat. Das würde allerdings viele Wirtschaftsbereiche lahmlegen, besonders die Ölindustrie, auch andere Industriezweige und das Gesundheitswesen.

Wer unterstützt denn die herrschende Familie?

Sie haben kaum Unterstützung. In der saudischen Gesellschaft gibt es drei wichtige gesellschaftliche Schichten: Die Scheiks, also die Religiösen, die Technokraten bzw. die Intelligenz und die Geschäftsleute und Händler. Diese drei Schichten sind gegen die herrschende Familie: Die Scheiks fühlen sich von der herrschenden Familie betrogen und ausgenutzt. Jahrzehntelang wurden sie als ideologische Waffe eingesetzt, doch je mächtiger und reicher die herrschende Familie wurde, desto weniger hat sie die Scheiks unterstützt, sie schließlich ganz vergessen. Die Intellektuellen, die im Ausland studiert haben, können diese uralte Gesellschaft einfach nicht mehr ertragen. Und die Geschäftsleute fühlen sich von der umfassenden Kontrolle der herrschenden Familie in allen Wirtschaftsbereichen drangsaliert. Denn die Mitglieder der königlichen saudischen Familie kontrollieren vom kleinsten Laden bis zum größten Unternehmen fast alles. Ohne ihre Zustimmung und ohne entsprechende Bezahlung kann niemand ein Geschäft machen. Nach dem Fall der Ölpreise hatte sich die ökonomische Situation verschlechtert — und die der Geschäftsleute folglich auch. Sie stehen in Konkurrenz zu westlichen Firmen, und die herrschende Familie unterstützt diese westlichen Konkurrenten, weil sie von denen mehr „Kommission“ bekommt. Viele Mitglieder der herrschenden Familie sind ohnehin Vertreter westlicher Firmen. Die herrschende Familie kann eigentlich nur auf die Unterstützung von einigen Beduinenstämmen rechnen. Die Scheiks dieser Stämme bekommen entsprechende Geldsummen. Als Soldaten der saudischen Armee und als Mitglieder von Sicherheitseinheiten werden stets Mitglieder dieser Stämme gewählt.

Aber natürlich erhält die „königliche Familie“ ihre wichtigste Unterstützung von den Amerikanern, ohne die sie sich nicht an der Macht halten könnte.

Was ist zur Zeit die Politik der herrschenden Familie?

Das hat sich in letzter Zeit ein bißchen verändert. Die Prinzen, die die Städte und die einzelnen Regionen kontrollieren, haben Treffen mit wichtigen und einflußreichen Leuten einberufen, um mit ihnen über die gegenwärtige Situation zu diskutieren. Das ist neu. Früher haben sie nicht diskutiert. Sie haben nur Befehle gegeben. Ein Teilnehmer an einer solchen Versammlung hat mir allerdings erzählt, daß niemand der Anwesenden den Mund aufgemacht hat, nach dem Motto: Sie haben die Amerikaner gerufen, jetzt sollen sie die Verantwortung auch allein tragen.

Und wie haben sich die Prinzen auf diesen Versammlungen geäußert?

Sie versuchten, die Unterstützung der Anwesenden zu bekommen. Sie haben über die nationale Einheit gesprochen. Sie baten die Leute, sich hinter den König zu stellen. Sie versuchten, die Leute zu beruhigen: Alles sei in bester Ordnung, alles sei unter Kontrolle. Und sie baten die Anwesenden, ihre Bankguthaben nicht ins Ausland zu transferieren, ihre Kinder nicht außer Landes zu schicken. Außerdem haben sie die Tore der Armee weit geöffnet — für Freiwillige. Die meisten Freiwilligen sind Arbeitslose, die Leute hoffen auf den guten Verdienst in der Armee. Aber kämpfen und sterben will keiner.

Wie sehen die Saudis die irakische Invasion?

Viele Intellektuelle sind froh darüber, weil sie glauben, daß diese Krise eine Veränderung in der ganzen Region bewirken wird. Sie glauben nicht, daß es zum Krieg kommt. Die meisten sind für die arabische Einheit. Die Meinungen in der Bevölkerung sind ganz unterschiedlich. Aber niemand mag die Kuwaitis, und gleichzeitig haben alle Angst vor der irakischen Aggression. Die Mehrheit will keinen Krieg. Sie wollen, daß der Konflikt friedlich gelöst wird, und wünschen gute Beziehungen mit dem Irak. Interview: Khalil Abed Rabu

Kadhiga S. (Name von der Redaktion geändert) hat im Libanon, in England und in den USA studiert und sich insbesondere mit der Lage der Frauen in den Golfstaaten beschäftigt.