Schwerstbehinderte in Holzverschlag gehalten

■ Polizei fand 33jährige nackt in Kot und Dreck / Behörden wußten vom Leben im Käfig

Yvonne Hauenstein ist 33 Jahre alt. Den weitaus größten Teil ihres Lebens hat sie hinter Gittern verbracht — auf einem eingegitterten Matratzenlager, aus dem sie nur zu kurzen Ausflügen an der frischen Luft von ihrer Mutter herausgeholt wurde. Yvonne Hauenstein ist von Geburt an geistig und körperlich schwer behindert. Daß ihre Mutter einen Tag lang tot neben ihr im Zimmer lag, hat Yvonne allem Anschein nach nicht wahrgenommen. Gestern wurde Yvonnes Schicksal zum Auslöser großangelegten Presseauftriebs in Bremen: Der Polizeibericht hatte Yvonnes Geschichte nach einem “grauenvollen Einsatz“ veröffentlicht:

In der Wohnung einer 66jährigen schwerkranken Frau in Mittelshuchting wurde deren 33jährige Tochter in einem Holzkäfig (200 X 100 X 180 cm groß) in menschenunwürdiger Weise gehalten. Die 33jährige hockte unbekleidet im verkoteten Käfig, kaute auf einer völlig verschmutzten Windel herum und stieß unartikulierte Laute aus.

Ein Kaspar-Hauser-Syndrom neuzeitlicher Machart — in einem bürgerlich gediegenen Neubaublock mit 24 Wohnpartien? Nachbarn mit Scheuklappen? Vogel- Strauß-Politik bei den Behörden, die die Nachbarn angeblich wiederholt und vergebens einzuschalten versucht hatten?

Die Geschichte hat viele Seiten: Schon im April 1988 hatte z.B. das Bremer Amtsgericht der 66jährigen Frau nach Drängen eines engagierten Sozialarbeiters die Vormundschaft entzogen. Doch im Instanzenweg hatte die 10. Zivilkammer des Landgerichts sie der Frau wieder zuerkannt. Schon damals war dem Gericht nach einem Ortstermin der Käfig bekannt. Grundlage seiner Entscheidung: Gutachten von drei Ärzten und dem ehemaligen Leiter des sozialpsychologischen Dienstes. Sie alle fanden: Die behinderte Yvonne ist bei ihrer Mutter „bestens aufgehoben“. Denn die Alternative wäre für das Mädchen die Unterbringung in einem Heim gewesen, in dem es festgebunden („fixiert“) und ohne Beziehungsperson hätte leben müssen.

Die Behörden zogen es in diesem Konflikt vor, schrittweise etwas an der Situation der beiden Frauen zu verändern. Der Sozialarbeiter erreichte nach zähem Ringen mit der selbst schwer kranken Mutter (sie hatte Diabetes, einen Herzschaden und offensichtlich zuletzt die Sehkraft fast völlig eingebüßt), daß Yvonne seit knapp zwei Jahren dreimal in der Woche von der Arbeiterwohlfahrt in deren Tagesstätte für Behinderte geholt wurde. Dort wusch und badete man das verkrüppelte Mädchen. Ihre Betreuerin Christine Thießen: „Im Wasser fühlte Yvonne sich immer pudelwohl.“ Als die Mutter einmal für zwei Wochen ins Krankenhaus mußte, lebte Yvonne ganz in einer entsprechenden Wohneinrichtung für Behinderte bei der AWO. In dieser Zeit habe Yvonne gelernt, einige Schritte zu laufen (während sie zu Hause außerhalb ihre Holzverschlages nur auf den Knien robbte), sie habe gelernt, aus einer normalen Tasse zu trinken (anstelle der Schnabeltasse), sei zur Toilette gegangen. Frühzeitig in entsprechende Therapie gekommen, hätte Yvonne nach Ansicht der Therapeuten zu einer selbständig sich fortbewegenden, essenden, vielleicht auch sprechenden Frau werden können. Doch die Mutter habe sich gegen alle Einflüsse von außen vehement gewehrt. Dazu hatte sie nicht nur einmal die Gerichte bemüht.

Die Nachbarn, die zum Teil seit Erstbezug des Hauses im Schillighörn vor über 20 Jahren die Hauensteins kennen, beschreiben ebenfalls eine enge Beziehung der Mutter zu dem Mädchen, wenn sie auch häufig „ruppig“ im Ton gewesen sei. Sie berichten auch von dem „schweren Schicksal“ der Frau: Der Ehemann hatte sich nach der Geburt des behinderten Kindes aus dem Staub gemacht, der Sohn vor ca. zehn Jahren Selbstmord begangen — mit schweren Depressionen durch das Leben mit der behinderten Schwester.

Birgitt Rambalski