piwik no script img

Die letzten guten Tage des Herbstes

■ Die hohen Temperaturen der vergangenen Tage erinnern an den wärmsten Novembertag des Jahrhunderts: Am 2. November 1968 maß man über 20 Grad Celsius — da erklärte die SED, man habe nun den Sozialismus erreicht

Berlin. An den über der Stadt schwebenden Kohlenstaub hatte man sich schon fast wieder gewöhnt, an diesen beißenden Geruch des weißen Qualms, der unverwechselbar nach Osten riecht. Nicht die fallenden Blätter kündigen in Berlin den Winter an, sondern die mit Briketts beladenen Hausfrauen, die Treppenhäuser hinaufächzen und daran erinnern, daß es höchste Zeit ist, selbst in den Keller hinunterzusteigen. In diesem Jahr haben wir Glück. Ein über Westeuropa klebendes Tief hat dafür gesorgt, daß die Stadt zur Zeit nicht stinkt, sondern nach Mittelmeer duftet. Diese Möglichkeit liegt im Herbst häufiger in der Luft: Wenn kräftige Winde die vom Mittelmeer stammende und in 500 Meter Höhe verweilende Luft auf den Boden wirbelt, wird's wärmer. Genau das ist zu Anfang der Woche passiert.

Die in den letzten Tagen erreichten Temperaturen um 20 Grad sind für die Jahreszeit zwar hoch — ungewöhnlich sind sie aber nicht. So gab es im Oktober des Jahres 1943 drei Tage schönsten Sonnenschein und sommerliche Meßwerte. Schon am 1. November 1893 maßen Meteorologen in Potsdam über 20 Grad Celsius. Über den 1. November 1968 liegen uns unterschiedliche Angaben vor. Während die (West-)'Berliner Morgenpost‘ damals die »Rekordtemperatur« von 19,3 Grad meldete und den 1.11. zum »wärmsten Novemberanfang seit 1830« erklärte, behauptete die (Ost-)'Berliner Zeitung‘ hingegen, dies sei der »wärmste 1. November seit 1893«, und verkündete, daß »mit 21 Grad sommerliches Wetter« geherrscht habe. Die Differenz von immerhin zwei Grad bedeutet entweder, daß die SED — wie die Kommunisten in Rumänien — selbst den Wetterbericht fälschen ließ oder daß eine der beiden Wetterstationen mit vorsintflutlichem Meßgerät gearbeitet haben muß. (Vielleicht war das aber auch die ideologische Antwort des Ostens auf die feste Überzeugung vieler Westbürger, die zu Zeiten des kalten Krieges davon ausgingen, daß es hinter der Berliner Mauer immer fünf Grad kälter war als davor.)

Ganz sicher ist die Skala aber am 2. November 1968 über die 20-Grad- Marke geklettert, das beteuert jedenfalls der Meteorologe vom Dienst in der Freien Universität. Der 2.11.1968 war aber nicht nur der wärmste 2. November seit Erfindung des Thermometers. Es war auch der Tag, an dem die Bürger der DDR »endgültig in das Zeitalter des Sozialismus vorgestoßen« waren. So sprach's das Mitglied des Politbüros des ZK der SED, Professor Alfred Norden, vor 800 Zuhörern auf einer »theoretischen Konferenz«. Eine große, neue Ära war angebrochen. Der Genosse Walter Ulbricht, damals Vorsitzender des Staatsrates der DDR, nutzte das schöne Wetter der Zeitenwende und veranstaltete für das diplomatische Korps am Wochenende in der Nähe von Magdeburg eine Hasenjagd. Beim Anblasen der Jagd, so berichtete die 'Berliner Zeitung‘, »konnte Walter Ulbricht Botschafter, Geschäftsträger, Generalkonsuln, Leiter von Wirtschafts- und Handelsmissionen und weitere Diplomaten herzlich begrüßen«. Die Teilnehmer hätten insgesamt 715 Hasen und drei Füchse erlegt, schrieb das Blatt weiter.

Auch diese Angabe ist zu bezweifeln. Denn einen Tag später berichtete die 'Morgenpost‘ — die taz gab's noch nicht — über den Besuch zweier Bezirksverordneter in der von Berlin abgetrennten westlichen Exklave Steinstücken. Die Politiker waren mit einem amerikanischen Militärhubschrauber angereist und informierten sich über die Sorgen der eingemauerten Bewohner. Die klagten über die schlechten Zufahrtswege und — über Hunderte von Karnickeln, die in die Exklave geflüchtet waren. »Bereits morgen wird ein Experte nach Steinstücken kommen, um sich über den Stand der augenblicklichen Kaninchenplage zu informieren. Er wird entscheiden, wie man der ungebetenen Gäste, die vermutlich aus der Zone kommen, Herr werden kann«, schrieb die Zeitung damals. Was man nicht wußte: Die Kaninchen waren zu Hunderten vor dem diplomatischen Korps und Walter Ulbricht geflüchtet. Der Staatsratsvorsitzende wollte sie aus Prestigegründen opfern und so westliche Diplomaten korrumpieren, damit sie endlich die DDR anerkennen. Daß aber gelang erst Erich Honecker, der es bei seinen Bestechungsmethoden nicht bei der Hasenjagd beließ, sondern mit Stasi-Chef Mielke wehrloses Rotwild über die Felder von Bernau nach Straußberg hetzte.

Das sommerliche Klima hielt sich auch am Sonntag noch. Am Ku'damm stellten die Cafés ein letztes Mal die Stühle raus, die Westler begrüßten den Bundeskanzler und CDU-Chef Kiesinger zum Unionsparteitag in Berlin. Unter den Linden schlenderten die Ostler und beobachteten vor der Staatsoper emsiges Treiben — dort wurde gerade die Festveranstaltung zum 51. Jahrestag der Oktoberrevolution vorbereitet. Im Westen beschloß der Senat den Ausbau der U-Bahn-Linie 8, im Osten verkündete der Magistrat die Errichtung eines Lenin-Denkmals in der gleichnamigen Allee. Am Abend tauchte die Sonne die geteilte Stadt in ein milchiges Licht. Dann begann der Winter.

Am Montag stürzten die Temperaturen ins Bodenlose. Ost- und Westberliner griffen mißmutig zu Schal, Hut und Regenmantel, grummelten in U- und S-Bahn vor sich hin, verschwanden schließlich schlechtgelaunt in ihren VEBs oder Fabriken. Die politisch umstrittene Ankunft von Kurt-Georg Kiesinger interessierte ebensowenig wie die glückliche Rückkehr des sowjetischen Kosmonauten Georgi Beregowoi, der mit dem Raumschiff Sojus 3 die Welt umkreist hatte. Vor dem Landgericht Charlottenburg erstürmten etwa tausend klitschnasse und frierende Studenten Polizeibarrikaden, warfen mit Steinen und skandierten, daß man von Rechtsanwalt Horst Mahler die Hände lassen solle. Am Tag darauf erklärte der SDS-Chef Christian Semler, daß man »den Straßenkampf auf eine völlig neue militante Ebene« gebracht habe und dies der wichtigste Erfolg der Demo gewesen sei. Knapp 22 Jahre später kann er sich auf Anhieb nicht mehr an das Datum der »Schlacht am Tegeler Weg« erinnern. Aber das weiß er noch genau: »Kalt war's!« Claus Christian Malzahn

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen