Abendfüllende Spielereien

■ »Die begabten Zuschauer« im Modernen Theater Berlin

Play the play you play all day play it every day play it all day long« — mit dieser Beschwörungsformel Gertrude Steins hypnotisiert sich die Darstellerin selbst vor dem Spiegel, windet sich dann in Rollen hinein, krault ihnen vom Bühnenhintergrund zur Bühnenrampe förmlich entgegen, probiert Posen und Masken, wischt sie mit einem Fächer ab, läßt neue Gesichter erscheinen, die sie in der Folge wieder verwischt. Spielen, ohne Unterlaß spielen, das Theater beginnt als Fluch.

Davor hatten bereits zwei Männer die Bühne betreten, sich Richtung Zuschauer gesetzt, das Publikum durch Operngläser betrachtet und mal als Schauspieler, mal als Zuschauer kommentiert: Wie gefällt Ihnen die Darstellung des ersten Liebhabers? Wie finden Sie die Dame dort auf der Galerie? Die beiden, großherzige Gentlemen, kommen zu dem Schluß, die Bühne könne sich rühmen, wenn auch etwas größer sein. Das Theater als geschlossene Anstalt, als unterhaltsame Selbstreferenz.

»Es kommt der zweite Mann auf die Bühne. Er bringt den ersten Mann um und singt. Es kommt der dritte Mann auf die Bühne und bringt den zweiten Mann um, der den ersten Mann umgebracht hat, und singt. Es kommt der erste Mann auf die Bühne...«: Es bedarf schon des fegenden Bühnenarbeiters, um die Stereotypie des Operngeschehens hervorzukehren — das Theater wird Selbstparodie.

»Ich umzingle das Publikum«, schreit einer und springt über die Rampe: das Theater als Raubtierkäfig — wer drinnen und draußen ist, ist nicht klar. Auch nicht in der Szene, in der Regisseur und Schauspieler sich gegenseitig einzufangen versuchen, wobei der Schauspieler der sichtlich Findigere ist: An der Vorhangstange entlang tastet sich der Regisseur dem Darsteller entgegen, daß der Auftritt nach x-maliger Wiederholung als »beinahe« gelungen bezeichnet werden kann.

Da bringt einer das Wesen des Theaters auf den endgültigen Nenner: »Ich trete auf und ab, solange bis der Abend gefüllt ist.« Ein Drama von Gerald Bisinger. Unter dem Titel Abendfüllend hat er es in diesem einen Satz kondensiert. Immer erneute Anläufe, Selbstversuche, Illusionsdurchbrechungen: Mit den Texten von Gertrude Stein, Konrad Bayer, Milan Napravnik, Reinhard Lettau, Volker Braun, Hans Magnus Enzensberger, Peter Handke und anderen steckt das neu gegründete Moderne Theater Berlin (vormals Krolltheater) erst mal einen großzügigen, lustbesetzten Spielraum ab. Was sich auf den wenigen Quadratmetern einer kleinen Guckkastenbühne vor und hinter einem schwarzen Vorhang so alles an Perspektive gewinnen läßt, zeigen die fünf Schauspieler Basil Dorn, Erika Eller, Ingrid Ernst, Stefan Kiesbye und Maximilian Ruethlein in ihrem Einakterpotpourri voller Wandelbarkeit und Erfindungskraft.

Im zweiten Teil des Abends verdichten sich die solchermaßen angerissenen Spielmöglichkeiten zur Groteske. Da sägt Hänsel seiner Gretel aus Eifersucht schon mal das Bein ab; da werden Herzen aus Brüsten geschält; da wächst ein Mensch aus einem Sofa heraus, nein, halt, das Sofa beginnt zu reden und spricht von seinen speckigen Lustnähten, die aufgeplatzt sind; da findet Hans die Schnittfläche von Gretels Bein ausgezeichnet; da werden Pappnasen aufgesetzt und wieder fallengelassen, da bleibt nur das gelbe Sofa, das steht. Und es vergeht einem vor lauter geteiltem Lachen schon auch mal das Lachen — und kommt verdoppelt zurück. Der Abend, in eine gute Spannungskurve gebogen und im zweiten Teil noch einer Steigerung zugeführt, ist unter der Regie von Günter Jeschonnek eine gelungene Einstandsarbeit des Modernen Theaters, das unter der Leitung von Ingrid Ernst sich vorgenommen hat, »ein differenziertes Theater der kleinen Form zu entwickeln, das [...] die Vielfalt menschlicher Position zum Ausdruck bringt«. Der Theatername ist folglich Programm: Man will zeitgenössische Autoren spielen — mit Einaktern von ihnen hat man uns in gleichsam homöopathischen Dosen auf den Geschmack gebracht.

Außerdem wird jeden Montagabend ein Sonderprogramm veranstaltet: Am kommenden Montag (22.10.) gibt es einen Vortrag über Gustav Landauer als Theaterkritiker und -dramaturg von Philippe Despoix zu hören, am darauffolgenden Montag (29.10.) stellt Gisela Zies ihr Theaterstück Die Schimpansin vor. Michaela Ott

Die begabten Zuschauer. Do. bis Mo. jeweils um 20 Uhr 30, Merseburger Straße 3, Berlin 62.