Romeo und Julia tanzen Mambo

■ Der Überraschungserfolg „Dirty Dancing“, 20.15 Uhr auf Tele 5

In den Führungsetagen der US-Filmindustrie haben seit geraumer Zeit Manager und Bürokraten das Sagen, die mit Hilfe von Tabellen, Taschenrechnern und Terminals Kassenerfolge zu programmieren versuchen. Die zahlenden Konsumlemminge aber sind immer noch für eine Überraschung gut, siehe das Beispiel Dirty Dancing.

Die früher ausschließlich auf den Videovertrieb spezialisierte Firm „Vestron Pictures“ ist erst seit 1986 auch auf dem Sektor der Filmproduktion tätig. „Vestron“ beschränkte sich auf kleine Filme, deren Etat sechs Millionen Dollar nicht überschritt. Als Glückstreffer erwies sich dabei die Billigproduktion Dirty Dancing, die allein in der letzten Augustwoche des Jahres 1987 in den USA über zehn Millionen Dollar einspielte.

Auch in der Bundesrepublik verzeichnete die Engtanzschnulze erstaunliche Besucherzahlen und hielt sich lange in der Zuschauergunst, obwohl der Premiere keine große Werbekampagne vorausgegangen war und der Film eher nebenbei in den Staffeln mitlief. Noch im Mai 1988, also acht Monate nach Bundesstart, lief der Film in 450 (von etwa 3.000) Filmtheatern. Als nicht minder lukrativ erwiesen sich Videoverleih und -verkauf sowie der Vertrieb des Soundtracks.

Zum „Dirty Dancing-Syndrom“ gehörte, daß sich viele Fans den Film mehrmals, auch kurz hintereinander, ansahen. Die mit 56 Filmbesuchen zur Spitzenreiterin gekürte junge Frau gewann für diese Leistung eine Reise nach Los Angeles.

Ein weiteres, den Filmerfolg begleitendes Phänomen war der Versuch großer Teile des Publikums, die Scheinrealität des Kinos zumindest ansatzweise in den Alltag zu verlängern. Die deutschen Tanzschulen erlebten einen Boom wie lange nicht mehr und reagierten entsprechend auf die Nachfrage nach „Mambo“- Kursen. Der Trend zu körperbetonten, sinnlichen Tänzen nahm seinen Anfang und hält bis heute an; auf „Mambo“ folgten „Lambada“ und ähnliche zwiegeschlechtlichen „Reibereien“.

Dieser Film, dessen Erfolg Kritiker wie Kaufleute gleichermaßen erstaunte, rührte Bestandteile aus Aschenputtel und Flashdance sowie Romeo unsd Julia und Westside Story zusammen und traf damit offensichtlich den Nerv des vornehmlich jugendlichen Publikums. Er handelt von der 17jährigen Baby Houseman (Jennifer Grey), die mit ihren Eltern die Ferien in einem Hotel verbringt, wo unter anderem eine Gruppe von Tänzern zur Unterhaltung der Gäste beiträgt. Für Baby tun sich gleich mehrere neue Welten auf. Das aus wohlbehüteten und gutsituierten Verhältnissen stammende Mädchen lernt soziale Not kennen, Menschen, die mühsam und verbissen um den sozialen Aufstieg kämpfen, und sie erfährt ihre eigene Körperlichkeit — der sinnliche Tanz, der „Mambo“, ist plakatives Synonym für den Sex schlechthin. Sie verliebt sich in den Tanzlehrer Johnny Castle (Patrick Swayze), der sich noch seiner Freundin und Tanzpartnerin verbunden fühlt, die wiederum von einem anderen schwanger ist. Baby leiht von ihrem Vater Geld für die Abtreibung; der hält Johnny für den Schuldigen und verbietet der Tochter den Umgang, muß seinen Irrtum erkennen, und in der finalen Tanzszene — Baby darf für Johnnys frühere Partnerin einspringen — wendet sich alles zum Guten.

Die einfache, so schablonenhaft wie ein Bravo-Fotoroman angelegte Geschichte lebt in erster Linie von der Überwindung diverser Gegensätze. Da ist der Alters- und Erfahrungsunterschied zwischen Baby und Johnny, den das Mädchen in einem forcierten Reifeprozeß abbaut. Zudem stört sich Babys Vater an Johnnys Herkunft: Der Proletarier paßt nicht in die Familie eines Akademikers, auch wenn er strebsam an seinem Aufstieg arbeitet. Dieser Klassenunterschied kann durch vorbildliches Verhalten des Kandidaten — nicht etwa durch Einsicht des Vaters — überwunden werden. Auch rassische Motive lassen sich erahnen; der Filmkritiker Roger Ebert definierte die Housemans als jüdische Familie, Johnny Castle dagegen als Amerikaner italienischer oder irischer Abstammung. Benannt werden diese Problemfelder natürlich nicht, vielmehr agiert Jake Houseman als besorgter, aber verständnisloser Vater, der erst allmählich erkennt, daß seine Tochter erwachsen geworden und durchaus zu eigenständigen Urteilen fähig ist. Da erkennen wir einmal mehr das uralte Thema vom Konflikt zwischen den Generationen, das in der Literatur und im Film unzählige Male aufgegriffen und variiert wurde. Und wie es scheint, delektiert sich jede neue Generation immer wieder mit dem gleichen Behagen an derselben, jeweils zeitgemäß gestalteten romantischen Geschichte. Dirty Dittmeyer