Ohne Marx kippt auch die Idee der Demokratie

■ Die freien und gleichen Citoyens verteidigen ihre Freiheit EUROFACETTEN

Der Angriff auf den Marxismus richtet sich im wesentlichen gegen zwei Prämissen: erstens dagegen, daß der Kapitalismus notwendigerweise den entfremdeten Arbeiter schafft und dabei die Person verdinglicht; zweitens, daß der Mensch unbedingt frei sein möchte, im Sinne gleicher Rechte: frei innerhalb des Systems sozialer Beziehungen.

Einerseits, so heißt es, nimmt die Arbeiterklasse mit dem technologischen Prozeß mengenmäßig ab, so daß in Bälde das unterdrückte Subjekt fehlen wird. Andererseits hat, nach einer neuen These, der Frühkapitalismus das freie Subjekt geschaffen — in seiner Eigenschaft als Eigentümer — und der Spätkapitalismus beschert ihm nun auch noch die Wiederaneignung der eigenen Lebensmitte mit Hilfe der Identifikation als Person, als Frau oder Mann, und zwar mithilfe von Konsum-Standards. Da dieser Konsum Teil des Kapitals selbst ist, zudem durch die technologischen Revolutionen künstlich neue Bedürfnisse geschaffen werden und schließlich die neuen Maschinen von menschlicher Arbeit befreien, gelinge es dem Kapital, sich ohne seinen Totengräber zu reproduzieren.

Die erste These ist plausibel, sofern man nur die fortgeschrittenen Stellen der Entwicklung betrachtet. Dennoch muß man fragen, ob im Angesicht der Errichtung eines Weltmarktes, das Heer der Proletartier nicht ebenfalls im Weltmaßstab gemessen werden muß — dort aber geschieht auf unterschiedlichen Ebenen weiterhin eine Proletarisierung.

Die zweite, komplexere These zielt auf die Frage der Entfremdung bei Marx selbst. Tatsächlich betrifft die Entfremdung alle Formen von Arbeit im kapitalistischen Produktionssystem — nicht nur die „Handarbeit“. Realiter ist alle Lohnarbeit, alle „nichtautonome“ Arbeit entfremdet. Das gilt, außer bei ein paar Programmierern auch etwa für die Arbeit am Computer. Selbst das Programm der Mikroprozessoren war vorher Arbeit und ist nun „geronnen“, fixes Kapital geworden.

Aus der Entfremdung und nicht aus der „Handgebundenheit“ der Arbeit formt sich das revolutionäre Subjekt. Wenn es überhaupt eine Frage gibt, dann die, ob die These stimmt, wonach die Freiheit eine dem Menschen innewohnende Notwendigkeit ist, so daß er sich ihrer Beraubung immer widersetzt, wie grob oder subtil dies auch geschehe. Gewiß: existiert dieses innere Bedürfnis nicht, gibt es auch keine Notwendigkeit zu politischem Handeln, um das eigene Schicksal zu gestalten. Marx wäre dann lediglich der letzte Sproß der Aufklärung und der „Ideologie“ der Französischen Revolution, längst dem Untergang geweiht, weil die Idee des Citoyen, der „frei und in seinen Rechten gleich“ geboren wird, obsolet geworden ist. Doch dann ginge, zusammen mit Marx, auch die Idee der Demokratie unter. Rossana Rossanda

Rossana Rossanda ist Mitbegründerin von 'il manifesto‘. Der vorstehende, leicht gekürzte Text entstammt ihren für 'il manifesto‘ verfaßten „Zehn Anmerkungen zur Krise der Linken“.