Ein Neunjähriger wie ein Säugling

■ Über das Leben mit einem Kind, das immer ein Pflegefall bleiben wird / „Mit Kopf lief da gar nichts“

Als ich Jens vor dem Haus seiner Eltern zum ersten Mal begegne, legt er den Kopf zur Seite. Mit großen blaugrauen Augen schaut er mich an, versucht zu verstehen. Auf dem Arm seiner Mutter wirkt Jens' schlanker Körper fast zerbrechlich. Sein hübsches Gesicht ist zart, die Haare dicht und weich, beinahe buschig. Jens ißt am liebsten Erdbeeren mit Schlagsahne oder Fischstäbchen. Dann sitzt er in einem Spezialstuhl und wird gefüttert. Jens muß getragen, gewaschen und gewindelt werden. Wenn er etwas sagen will, knurrt, stöhnt oder quitscht er. Jens schmust gerne mit seiner Mutter. Dabei lacht er und strampelt mit den Beinen. Manche Dinge, die sie ihm sagt, versteht er schon. Jens ist jetzt neun Jahre alt.

Während mir Petra Dreyer(38), Jens' Mutter, von den 30 Stunden Geburt erzählt, wird ihr Gesicht ernst. Damals bekam Jens zu wenig Sauerstoff. Außerdem bekam er eine Gehirnblutung, als er gewaltsam ans Licht geholt wurde, mit einer Saugglocke. Für die Mutter ist die Geburt noch heute ein Trauma. Seitdem leidet Jens unter krampfartigen Anfällen, Lähmungen am ganzen Körper und gestörtem Gehirnwachstum. Er wird immer ein Pflegefall bleiben, angewiesen auf die Zuwendung und das Einfühlungsvermögen seiner Eltern.

Wir sitzen im Wohnzimmer des Einfamilienhauses in Syke, das Petra (Hausfrau) und Dieter Dreyer (Bauingenieur) seit fünf Jahren bewohnen. Jens, der gerade mit einem Behinderten-Bus aus der Schule gekommen ist, liegt in der Mitte des Raumes auf einer gepolsterten Kinderdecke. Als seine Mutter zum Teemachen in die Küche geht, hebt er den Kopf. Versteht er was sie sagt? „Ich weiß natürlich nie genau, wie er alle Eindrücke verarbeitet. Aber auf Wörter und Sätze, die sich oft wiederholen, reagiert Jens. Wenn ich ihm sage, daß ich etwas zu essen hole, lacht er und freut sich.“ Während wir reden, kniet sich Petra Dreyer auf die Decke. Sie streichelt Jens, wenn er durch Stöhnen Aufmerksamkeit fordert. „Inzwischen ist er schon ganz schön raffiniert. Wenn er sich nicht genug beachtet fühlt, läßt er sich ständig auf die Seite fallen“, sie lächelt listig, „aber ich durchschaue ihn. Denn Aufstützen auf die Ellenbogen, das können wir inzwischen. Nicht wahr Jens?“ Jens strampelt zufrieden.

Um ihren Sohn so zu lieben wie er ist, mußte Petra Dreyer hart an sich arbeiten. Daß er auch heute noch wie ein Säugling reagiert, daß er nie der sein wird, den sie sich einmal vorgestellt hatte, konnte Petra Dreyer erst allmählich akzeptieren. Als Diplompädagogin, damals noch in einer Kindertagesstätte tätig, war sie immer davon überzeugt, Wissen und Intelligenz, das sei ihr einziges „Kapital“. Durch die Geburt von Jens war sie plötzlich mit einem Alltag konfrontiert, wo „mit Kopf gar nichts mehr lief“. Deshalb war sie am Anfang so verzweifelt, so wütend auf sich und ihn, als er auf alle Therapieversuche nur mit Schreien reagierte. Deshalb hatte sie Jens manchmal sogar gehaßt, gewünscht, daß es ihn nicht gäbe, überlegte mit ihrem Mann sogar eine Zeitlang, ihn umzubringen.

Besonders im ersten Jahr mit Jens fand sie bei Fachleuten wenig Verständis für ihre Situation. Der erste Rat, den sie erhielt, war, „mein defektes Kind in ein Heim zu geben und möglichst schnell wieder schwanger zu werden, um den Schaden zu vergessen“. Kein Wort des Betroffenseins oder der Anteilnahme. Oder, die andere Variante, man schlug ihr Übungsprogramme vor, um den Schaden wenigstens zu begrenzen. „Den meisten Therapeuten ging es vor allem darum, ihre Behandlung stur durchzuziehen“, erzählt sie mir. Das allerdings kam ihrer damaligen Verfassung sehr entgegen, dem Druck, dem sie ausgesetzt war, der Gefühllosigkeit gegenüber ihrem Kind, ihrem Schuldgefühl versagt zu haben. Sie wurde zur Co-Therapeutin. „Gemeinsam haben wir versucht, Jens zu reparieren, ihn normaler zu machen. Ob er das wollte oder nicht, war praktisch egal.“ Jens Reaktion: Ununterbrochenes Schreien und völlige Verkrampfung. Und Jens erreichte schließlich, was er wollte. So klein und hilflos wie er war, zwang er seine Mutter zum Abbruch ihrer ergeizigen Bemühungen und, was für beide das Wichtigste war, zum Nachdenken.

Irgendwann, so erzählt sie mir, habe sie begriffen, daß Jens offenbar etwas anderes brauchte. Was, das wußte sie damals noch nicht. Nur eins war klar: Nie wieder Therapie. Nie wieder blind Medikamenten vertrauen.

Inzwischen hat sie Jens auf den Schoß genommen. Suchend blickt er nach rechts und links, als ob er den Sinn unserer Unterhaltung begreifen will. Er scheint unseren Stimmen zu lauschen. Jetzt sind seine Hände keine geballten Fäuste mehr, er kann sich entspannen. Ab und zu greift er nach den Fingern seiner Mutter.

Nach dem Abbruch der Therapie „für unbestimmte Zeit“ begann für Mutter und Sohn eine ganz neue Zeit. Jens wurde nur noch zur Kontrolle in die Praxis gebracht, der Gedanke, ihn in ein Heim zu stecken, endgültig verworfen. „Ich habe durch Jens noch einmal eine große Chance gehabt, mein Leben zu überdenken.“ Petra Dreyer erzählt nachdenklich davon, wie sie plötzlich ihre eigene Behinderung, ihre unverarbeitete Kindheit, die ihr damals fehlende Zuneigung wahrgenommen hat. „Jetzt habe ich nicht mehr das Gefühl, ich mache was für Jens, wenn ich mit ihm schmuse, sondern für uns beide.“ Jens hat keine Lust mehr, auf ihrem Schoß zu sitzen, er macht sich steif. Als ich ihm zum Abschied über den Rücken streichele, lacht er.

Birgit Ziegenhagen