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Niemand sieht so richtig durch

■ Neue Studienbedingungen bedeuten für viele StudentInnen neue Unsicherheiten/ Nach einem Jahr Studentenrat greift Lethargie um sich/ Demokratische Strukturen der Humboldt-Uni in Gefahr

Mitte. Chaos herrscht für StudentInnen wie für Lehrende zu Semesterbeginn an der Humboldt-Uni. Die neue Freiheit des Studiums bringe eben auch viel Unsicherheit für die StudentInnen mit sich, stöhnt Susan Arndt vom StudentInnenrat. Einheitliche Studienpläne und Anwesenheitslisten sind längst Erinnerung an vergangene Zeiten. Von den Leiden in den Seminaren des »Grundlagenstudiums Marxismus-Leninismus« werden sich die Neuimmatrikulierten nur noch von den Spätsemestern berichten lassen können. Und alle werden, während sie wohlig schaudern, glauben, daß es ganz schrecklich gewesen sein muß.

Doch jetzt ist zum Glück alles anders. Haupt- und Nebenfach konnten die StudentInnen frei wählen. Ihre Studienpläne basteln sie sich selbst zusammen. Auch ihre Bude müssen sie sich allein suchen. Alles läuft jetzt in eigener Regie ab. Aber die wenigsten würden behaupten, sie sehen schon richtig durch, und selbst die StudienberaterInnen müssen sich erst durch die neuen Möglichkeiten und Rechte hindurchkämpfen.

Susan nutzt diese und beginnt nach fünf Jahren Germanistik jetzt noch ein neues Studium an der Sektion Afrikanistik. »Wir sind sowieso die Arbeitslosen von morgen, da kommt es auf ein paar Studienjahre mehr nicht an«, meint sie ernüchternd. Viele StudentInnen wollen jetzt endlich das machen, wozu sie schon immer Lust hatten.

Das Studium ist zur Existenzfrage geworden

Doch große Aufbruchstimmung herrscht trotz Studienbeginn nicht. Nach einem Jahr Arbeit im StudentInnenrat registriert Susan eher eine absolute Lethargie unter den Leuten. Jeder kümmert sich jetzt um sich selbst, das Studium ist zur Existenzfrage geworden. Nur einige wenige wollen im Kampf um ihre Rechte nicht aufgeben, vor allem wollen sie nicht wieder das verlieren, was sie seit dem vergangenen Jahr an Demokratisierung in der Uni erreicht haben. Im Konzil z.B. sind durch Quotierungsregelungen StudentInnen und ProfessorInnen nahezu gleichgestellt. Anders als im Westen haben die Profs hier nur eine Stimme bei Entscheidungen. Außerdem wurde im Statut der Universität ein Vetorecht für jene festgeschrieben, die bei bestimmten Entscheidungen besonders davon betroffen sind.

Ein Jahr Galgenfrist

Doch all das könnte bald schon wieder passe sein. Den StudentInnen bleibt eine Galgenfrist, wie Susan es nennt, von einem Jahr bis das Hochschulrahmengesetz der Bundesrepublik auch für die Humboldt-Uni gilt. Da die Wahlen und das Statut keinen rechtsstaatlichen Kriterien entsprechen, könne man die Ergebnisse rechtlich anzweifeln, stoppte Wissenschaftssenatorin Barbara Riedmüller inzwischen den Übereifer der Ost-StudentInnen. Nicht anzuzweifeln ist allerdings, daß die von den StudentInnen selbst geschaffenen Strukturen zum Teil demokratischer sind als an den West-Unis. Deshalb sehen einige Leute vom StudentInnenrat das Jahr Galgenfrist auch als Chance, nicht nur um etwas hinüberzuretten, sondern auch um noch mehr Verbesserungen vielleicht gemeinsam mit den Asten in Westberlin zu erreichen. Dafür wollen die StudentInnen am 4. November mit dem Runden Tisch von unten wieder auf die Straße gehen.

Schließlich ist ihre Forderung nach finanzieller Unabhängigkeit von den Eltern noch längst nicht erfüllt. Die Ost-StudentInnen werden außerdem 200 Mark weniger Bafög bekommen als ihre West-Kommilitonen. Das hängt vor allem mit den niedrigeren Mieten im Ostteil der Stadt zusammen. Ab Januar müssen sie um die 50 D-Mark für ihr Wohnheimzimmer oder ihre Wohnung auf den Tisch legen. Auf der Straße müsse niemand schlafen, schätzt Peter Kozany ein, der das Referat Studentisches Wohnen leitet. Sie können sogar anfangen, die Vier-Personen-Zimmer in den Wohnheimen abzubauen. Es gäbe aber auch Leute, vor allem StudentInnen aus dem Westen, die Wohnheimplätze ablehnen.

Doch Wohnen sei nicht alles, meint Susan. Von den Fahrkosten über die Büchergelder bis zum Essen wird sich in nächster Zeit alles angleichen, und dann ist es auch für Ost-StudentInnen bald Luxus, ins Theater zu gehen oder Bücher im Schrank zu haben, was bisher zum Alltag gehörte. Anja Baum

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