Gefallene Engel im Zentrum des Bösen

Ein spuckender Frank Rijkaard, der Doping-Sprinter Ben Johnson und der Pferdeschreck Paul Schockemöhle: Variationen des Bösen im Sport/ Die luziferschen Abzeichen sind schwer zu erheischen  ■ Von Harry Nutt

Die Fußball-Weltmeisterschaft hat es wieder einmal zum Vorschein gebracht: Sport ist mehr als nur ein sperriges Vehikel zur Austragung nationaler Gefühlswallungen. Mehr als um Sieg und Niederlage ging es um das Zelibrieren sportlicher Inszenierungen. Denn nicht allein die Weltmeister waren am Ende die Helden, sondern vor allem jene, die eine unverwechselbare Pose aufführen konnten.

Die Signatur schuf der alternde Neu-Heros Roger Milla, dessen Lambada an der Eckfahne zum Emblem dieses weltweiten Kollektivfestes wurde. Auf den weiteren Plätzen folgten der kolumbianische Torhüter Higuita mit seinen Soloeinlagen im Mittelfeld und der kaltschnäuzige Sizilianer Schillaci mit dem Glanz seiner blauen Augen. Sie alle erzeugten mehr an verbindlicher Symbolkraft als Lothar Matthäus' Distanzschüsse oder Guido Buchwalds unerbittliche Manndeckerqualitäten.

Einen Verlierer fand man schnell im Holländer Frank Rijkaard, dessen Versuch, sich unvergessen zu machen, lediglich einen gelben Fleck in Rudi Völlers Lockenpracht hinterließ. Rijkaards feuchte Attacke war ein Mißgeschick, das nur noch

durch eine reuige Entschul-

digung in der Weltpresse

zu neutralisieren war.

Trotzdem: Rijkaard wurde nicht zum Fußball-Luzifer, so leicht erringt man die Abzeichen des Bösen

nicht. Das

härteste

Foul ist

entschuld-

bar,

auch der

brutalste

Angriff auf die Gesundheit des

Gegners kann durch die Regulie

rungskompetenz des Schiedsrichters

von teuflischen Attributen gereinigt

werden. Das Chaos wird aufgeführt,

mit seiner Entscheidung jedoch ist

die Ordnung wiederhergestellt. Die

Regelverstöße enthalten zwar luziferische Elemente, tragen aber letztlich zur symbolischen Ordnung der guten Inszenierung bei.

Verlassen wir also den Fußballrasen und suchen das wirklich Böse im Sport. Am schnellsten hat sich der Kanadier Ben Johnson in diese Kategorie hineingelaufen, in weniger als zehn Sekunden, wobei man freilich die lange Muskelaufbauphase durch die Einnahme unerlaubter Präparate mit einberechnen muß. Die Rede ist vom Doping, das eines der wichtigsten Prinzipien des Sports unterläuft: den Glauben an die reine Leistungsfähigkeit der menschlichen Sportmaschine.

Ben Johnson konnte zum spektakulären Dopingsünder (man beachte die katholizistische Sprachregelung) avancieren, weil er der Vertreter einer reinen Sportart ist, die zur Feststellung einer einzigen Fähigkeit, der Schnelligkeit, ausgeübt wird. Der Sprint ist eine klassische Disziplin, die Frage nach dem schnellsten Mann erreicht mythische Dimensionen.

Zum wirklich Bösen taugt aber nur, wer zuvor gut gewesen ist. Was haben wir ihn gelobt, unseren Ben! Seine Muskeln haben Männer- und Frauenherzen höher schlagen lassen, setzten sie doch wieder vitale Kraft an die Stelle der synthetischen Eleganz eines Carl Lewis. Doch das Retortenbaby soll nicht Sieger bleiben, hinter dem Sport regiert immer noch das gesellschaftliche Prinzip Arbeit, wenngleich es immer häufiger unterminiert wird.

Eben deshalb schmerzt der Fall Johnson. Ausgerechnet seine Muskeln sollen falsch sein? Wir erinnern uns, auch der Teufel ist in der christlichen Mythologie ein gefallener Engel, und so sah man Ben Johnson schon bald in den Abgründen der menschlichen Existenz mit einer Schußwaffe fuchteln. Johnson konnte so tief fallen, weil er einen faustischen Pakt mit dem Medizinmann geschlossen hatte, um die Überbietung des Unüberbotenen als Konfektionsware anzubieten. Wovon letztlich der Sport lebt: Herstellung des Helden als Stangenware.

Mit Doping befinden wir uns an der Schwelle zum Bösen, weil die Akteure in vollem Bewußtsein handeln. Der Versuchung ist kaum zu widerstehen, der Geist ist willig, das Fleisch schwach. Doch längst nicht ist das Zentrum des Bösen erreicht, denn die Sünder können von ihrem bösen Tun noch einmal abrücken.

Das wahre Problem entsteht aus einer paradoxen Konstellation heraus. Scheinbar wird durch das Doping das Prinzip Arbeit torpediert, andererseits entspringt das Doping nur einer wissenschaftlich-technischen Rationalität, die durch Arbeitsteilung entstanden ist. Das Doping selbst wäre also nicht böse, es gehorchte vielmehr einer linearen Logik unserer gesellschaftlichen Vernunft. Genau dies aber stößt im Sport auf Grenzen, hat doch gerade er die Aufgabe, durch seine symbolischen Inszenierungen archaische Ordnungen in Turbulenzen zu versetzen, um sie anschließend gereinigt erscheinen zu lassen.

Die beschriebenen Varianten des Bösen im Sport werden als Sonderfälle behandelt, aber sie gehören systemimmanent dazu. Gerade Sport erfüllt innerhalb der Gesellschaft die Aufgabe, einfache Entscheidungen, Sieg oder Niederlage, Held oder Versager, Macht oder List usw. anzubieten. Das Zeichensystem Sport ist leichter verstehbar als die gesellschaftliche Wirklichkeit. Im Sport kann das Böse begrenzt werden, wohingegen es draußen in der Welt auf vielfältige Weise chiffriert oder schlimmer, durchrationalisiert ist. So erreicht die Sportwelt einen hohen Aktualisierungsgrad moralischer Kategorien. Gut und Böse werden fortlaufend polarisiert. Es gibt kaum einen Bereich, der die Urteilskraft vieler schlagartig so herausfordern kann wie der Sport. Die gesellschaftliche Urteilsfähigkeit geht in der Sportwelt ins Trainingslager.

Damit wären wir bei Paul Schockemöhle angekommen. Er ist das Musterbeispiel eines gefallenen Engels. Hochgradig skandalfähig, bescherte er uns mit Deister einen nahezu menschlichen Sporthelden. Ohne die rührenden Ehrungen dieses Pferdes wäre der Fall Schockemöhle kaum denkbar.

Schockemöhle fiel so tief, weil er auf schonungslose Weise die Prinzipien der wissenschaftlich-rationalen Vernunft in den Sport übertragen hat. Der Geschäftssinn war für ihn nicht Nebenprodukt, sondern Grundstein des Erfolges. Schon bevor der Tierquäler in die Schlagzeilen geriet, hatte der 'Spiegel‘ den Anwender der wissenschaftlichen Rationalität im Dienste der Produktionssteigerung aufgespießt. Auf seinem Hof in Mühlen nämlich war der Embryotransfer an Pferden erprobt worden. Eine gute Mutterstute, die an einem Fohlen in der Natur elf Monate zu tragen hätte, kann nun vier- bis fünfmal im Jahr aufnehmen und ihre Frucht von züchterisch nicht so bedeutenden Mutterstuten austragen lassen.

Paul Schockemöhle war so unfair gewesen, die reine Profitgier unmißverständlich kenntlich zu machen. Der Einsatz der Technik im Sport, der im Grunde nur die Verlängerung des Arbeitsprinzips ist, erscheint als das Monströse. Schockemöhle hat zudem die Schamlosigkeit besessen, auf die Verschleierungsmechanismen keine Rücksicht zu nehmen. Die Sportwelt, darüberhinaus die gesamte moralische Öffentlichkeit hat unter der Marke „Tierschutz“ die rote Karte gezogen, um in ihrer Spielanordnung bleiben zu können.

Das Sportpferd ist dazu auf besondere Weise geeignet. Es ist die Verlängerung des Arbeitspferdes, das, gezähmt, dem Herrschaftsbereich des Menschen angehört. Nicht zuletzt an den Haustieren hat der moderne Mensch sein pädagogisches Vermögen ausgebildet. Pferde besitzen eine animalische Kraft, von der die erzogenen Pferde, man kann sagen: leider, nichts wissen. Sie sind vor der Anwendung unserer gesellschaftlichen Prinzipien in der Tat schutzbedürftig.

Dies freilich ist keine Schutzrede für Schockemöhle. Die Affäre sollte jedoch die Annahme unter Verdacht stellen, daß unsere humanen und moralischen Sicherungen funktionieren. Der Fall Paul S. übt selbst im Namen der Ankläger noch eine kathartische Funktion aus. Der Sport ist nur die Bühne, auf der wir das Antlitz des Bösen ertragen können.