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KOMMENTARGrenzen

■ Was bei der Helsinki-Konferenz zementiert wurde, bröckelt heute

Als 1975 im Abschlußdokument der KSZE die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa festgelegt wurde, schien der Schlußstrich unter eine Geschichte voller Schmerz und Bitterkeit gezogen zu sein. Die Helsinki-Konferenz ist als vorweggenommene Friedenskonferenz interpretiert worden, als erster Schritt zu einem Europa, in dem mit der Lockerung der Blockgrenzen die Bedeutung von Grenzziehungen überhaupt relativiert werde.

Die geschichtliche Entwicklung hat diesen optimistischen Erwartungen nicht recht gegeben. Paradoxerweise ist die vielfach am Helsinki-Prozeß geäußerte Kritik, er zementiere den politischen Status quo, von den Tatsachen völlig widerlegt worden, während seine allseits gerühmte Qualität, den territorialen Status quo zu sichern, sich als substanzlos herausgestellt hat. Es zeigt sich jetzt, daß in Helsinki die historische Wirkungsmacht des Selbstbestimmungsrechts verkannt und die Stabilität hegemonialer Herrschaft — ganz in der Tradition des Wiener Kongresses — überschätzt wurde.

Aus dem zerfallenden sowjetischen Einflußbereich treten alte und neue Nationen heraus und sprengen den Status quo. So legitim ihre Forderung nach Selbstbestimmung ist, so monströs ist der jetzt zutage tretende Nationalismus, der überkommene Grenzkonflikte hochputscht und aus ungelösten Minderheitenproblemen Kapital zu schlagen sucht. In diesen Tagen ist dem polnischen Außenminister Skubiszewski von der weißrussischen Regierung mitgeteilt worden, diese sehe sich außerstande, die gemeinsame Grenze als unverletzlich zu garantieren. Litauens Präsident Landsbergis, selbst mit territorialen Forderungen der weißrussischen Nachbarn konfrontiert, versteigt sich dazu, Ansprüche auf den Kaliningrader Oblast (das ehemalige nördliche Ostpreußen) zu erheben. Im auseinanderbrechenden Jugoslawien ist die schiere Existenz mehrerer Republiken gefährdet usw. usf. Die reichen Vettern aus dem Westen sehen sich mit einer Wiederkehr gerade erst in ihren eigenen Reihen überwundener Zustände konfrontiert. Sie reagieren mit einer Mischung aus ethnologischer Neugier und Entsetzen.

Wird sich der KSZE-Rahmen als stabil genug erweisen, die entfesselten nationalistischen Leidenschaften zu besänftigen und friedliche Formen für die Schlichtung der Grenzstreitigkeiten und Minoritätenfragen durchzusetzen? Viel wird davon abhängen, ob in den Gesellschaften Ost- und Südosteuropas die Netze ziviler Verständigung stark genug geknüpft werden. Die Helsinki-Bürgerversammlung in Prag an diesem Wochenende wird sich, wie die Konferenz von Temesvar, Ende dieses Monats dieser mühseligen Aufgabe widmen. Christian Semler

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