Die Zonen der Unschuld

■ Im Schiller-Theater wurde die neue Spielzeit vom neuen Hausherrn Alfred Kirchner mit dem Schiller-Abend »Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide ...« eröffnet

Der Bühnenraum ist mit hellem Tuch ausgekleidet, der Boden papierbedeckt. Rechts ist ein Tableau zu sehen, eine zart gezeichnete Landschaft, die sich nach unten hin verliert, sich an einer zweifach geschwungenen Linie entlang in reines Weiß auflöst. Und über allem schwebt eine Montgolfiere, ebenfalls weiß, klein und fein und so weit oben aufgehängt, daß sie fast aus dem Blickfeld gerät. Die hochfliegenden Ideale der Aufklärung und der schwellende, heillos jungfräuliche Busen der Natur, die beiden Zonen der Unschuld, die Friedrich Schiller wie andere Denker in seinem verwirrenden, desillusionierenden Jahrhundert ausmacht, sind schon von Anfang an nicht das, was sie sein sollen. Sie sind es deswegen nicht, weil sie hineingestellt werden müssen in einen (gesellschaftlichen oder auch Bühnen-)Raum, der nicht viel mit ihnen zu schaffen hat, in dem alles Vorhandene erst sorgfältig abgedeckt werden muß, damit er als Projektionsfläche für ganz andere Sphären taugt.

Der Abend mit dem schönen Titel Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide ..., mit dem die neue Leitung der Staatlichen Schauspielbühnen nach der Sommerpause — mit einiger Verspätung — ihre erste Spielzeit eröffnete, ist in mehr als nur einer Hinsicht programmatisch geraten, und aus der schönen Schlichtheit von Vincent Carallas Bühnenbild lassen sich die verschiedenen Aspekte dieses Programms vielleicht am klarsten herauslesen. »Das Schiller-Theater eröffnet mit Schiller« — das allein ist zunächst nicht mehr als ein naheliegender, banaler bis anmaßender Einfall. Die Art, wie er umgesetzt wurde, läßt einiges erwarten. Denn dieser Abend ist nur der erste von vier aufeinanderfolgenen. Gestern las Bernhard Minetti Grimmsche Märchen in Deutschland, heute Goehtes Faust I und morgen, am Sonntag, endlich Die Räuber. Nichts wäre leichter gewesen, als die Spielzeit gleich werbewirksam mit den Räubern, inszeniert vom Star des Hauses, Alexander Lang, zu eröffnen. Statt dessen: zunächst gedeckte Farben, gedämpfte Töne, der Versuch, Raum und Zeit für eine ernst zu nehmende Auseinandersetzung des Theaters mit seinem Namensgeber zu schaffen. Eine solche Ernsthaftigkeit ist in der subventionierten Theaterlandschaft des Berliner Westens inzwischen so ungewöhnlich, daß der Versuch allein schon zaghafte Hoffnungen weckt. Diese Zeit mit Schiller zu konfrontieren, ohne in klassischer Pose zu erstarren (was dem Berliner Abonnentenpublikum immer noch billig wäre), aber auch ohne ihm einfach die Patina abzukratzen, ihn bloß zu aktualisieren (was anderswo ebenso leicht zu haben ist), ist ein schwieriges und undankbares Unternehmen: Es ist erst einmal weniger wichtig, daß es nicht in jeder Beziehung geglückt ist.

Der neue Intendant Alfred Kirchner (Regie) spaltet die Figur Schiller — und Schillers Figuren — auf: Die (hervorragend zusammengestellten) Texte, von biographischen und ästhetischen Reflexionen über das präpotent-pathetische Jugendgedicht Männer und Kastraten (»wer keinen Menschen machen kann / der kann auch keinen lieben«) bis zur Jungfrau von Orleans, werden auf das gesamte Ensemble verteilt — dreizehnmal Friedrich Schiller auf der Bühne seines Theaters, achtmal männlich und fünfmal weiblich. Und das ist dann zuviel des Guten. Wo in den besten Momenten die Spannung produktiv genutzt wird, die sich zwangsläufig aus der fundamentalen Distanz zwischen Schiller, dem Schiller-Theater und dessen Publikum ergibt, schlägt diese Distanz in dem Augenblick in Gleichgültigkeit und Langeweile um, wo niemand mit ihr etwas anfängt.

Die langen, schwierigen Texte in Schillers fremder Sprache bleiben im Raum hängen, wenn sie auf zu viele Schauspieler aufgeteilt werden, die sie memorieren müssen, anstatt sie zu lesen und ihnen so vielleicht doch noch näherzukommen. Den »Klassiker« Schiller, gegen den sich die Literaten und Theaterleute vor Zeiten auflehnten, gibt es nicht mehr. Es muß erst neu gelernt werden, ihn zu sprechen und ihn zu hören. Der Abend im Schiller-Theater weckt nicht bloß das Bedürfnis danach. Er hinterläßt auch den Eindruck, daß die neue Besatzung sich vor dieser und anderen schwierigen Aufgaben nicht drücken wird und das auch nicht nötig hat. Anselm Bühling

Inszenierung: Alfred Kirchner; Bühne; Vincent Callara; Kostüme: Margit Koppendorfer. Mit Therese Hämer, Dinah Helal, Christiane Leuchtmann, Tatja Seibt, Friederike Wagner, Christian Berkel, Christian Grashof, Benno Ifland, Hans-Peter Korff, Dieter Montag, Ulrich Noethen, Thomas Schendel, Joachim Schönfeld.