Das Leiden des Gerhard Zwerenz

■ Ein zuwenig verfolgter Dichter in der Humboldt-Bibliothek

Die Vereinigung hört nicht auf, Schatten hinterherzuwerfen: Neue innerdeutsche Spaltungen tun sich in den verschiedensten Spalten auf. Immer noch parallel zu den alten Gräben, wenn auch quer durch die Großspalten der hochdeutschen Blätter wie 'FAZ‘, 'Neues Deutschland‘, 'Die Zeit‘.

Ein solcher Fall von Spaltungsausweitung bzw. -vertiefung wurde Donnerstag abend in der Humboldt- Bibliothek referiert: Gerhard Zwerenz sprach über sich selbst als Fall des Falles, als symptomatischer Casus einer überall auszumachenden deutsch-deutschen Verdrängung, der mit Nachdruck Einhalt zu gebieten sei. Er benutzte eine Lesung in der Humboldt-Bibliothek, ein Plädoyer für das Recht der Feindschaft zu halten, und damit den Zuhörern eine versäumte Geschichtslektion zu erteilen.

Der Hergang: Er, ein klassisch gesamtdeutscher Fall, der 1957, nach Beendigung der »Tauwetterperiode«, die vormalige DDR aufgrund verstärker Repressionen verlassen hat und nun, nach Beendigung der Zwischeneiszeit, 1990 zum ersten Mal im neuen 'Neuen Deutschland‘ veröffentlichen konnte (alte Satiren, wie er sagt, 1956 geschrieben und sozusagen in ihr Geburtsland zurückgekehrt), wurde indirekt vom hiesigen Statthalter in Sachen Gesinnungsethik, Hans-Christopf Buch, wegen dieser Veröffentlichungen in einem 'FAZ‘-Leserbrief angegriffen, da das 'ND‘ doch »Verlautbarungsorgan« von Hermann Kant und Konsorten sei. Zwerenz' Antwort darauf: Er stehe Gesinnungswandlungen grundsätzlich offen gegenüber, er habe die Bitte um Entschuldigung der dortigen Redakteure akzeptiert, er habe also im 'ND‘ veröffentlicht, auch wenn Kant und Hermlin seine Gesinnungsfeinde seien. In einem 'ND‘-Interview sagte Zwerenz, wenn Buch behaupte, man dürfe aus hygienischen Gründen nicht für das 'ND‘ schreiben, so antworte er: Aus hygienischen Gründen schreibe er nicht in der 'FAZ‘. Es gebe Zeitungen, die hätten die Wende hinter sich, und andere, die hätten sie eben noch vor sich... Seine Absicht sei eher, »aus dem gesamtdeutschen Literaturbrei« zu desertieren: Er wolle für den Westen nichts mehr schreiben, für den Osten dagegen müsse er noch reden, solange einiges nicht gelüftet sei.

Angesprochen und aufgerufen waren bei seinem Lesungsvortrag dann auch eher als das vorhandene Publikum seine alten Feinde Kant und Hermlin, die im Anschluß an Zwerenz' 'ND‘-Interview behauptet hatten, daß sie ja gar nicht seine Feinde sein könnten: Weder würden sie ihn kennen, noch hätten sie ihn jemals zensiert. Daß er in der DDR nie zensiert worden sei, wollte Zwerenz gerne zugeben: Er sei ja niemals dort veröffentlicht worden. Neben der Tatsache, daß sie im PEN-Club aber häufig nebeneinandergesessen hätten, gebe es zahlreiche Indizien für eine erklärte Feindschaft von seiten Kants und Hermlins. In dieser »Bagatellisierung ihrer Feindschaft« sehe er eben das Gefährliche: Er werfe ihnen nicht ihre alte Haltung vor, sondern die Tatsache, daß sie sich jetzt nicht stellen wollten, daß sie schon wieder bereit seien, alles unter den Teppich zu kehren.

Anhand zahlreicher Textstellen bewies er in der Folge den Zuhörern, daß es diese Feindschaft tatsächlich gab: 1956 hatte sich Hermlin, der Altstalinist, der Gruppe der Reformer um Janka, Harich, Kantorowicz und ihn, Zwerenz, in einem Gedicht im 'Sonntag‘ angenähert. Als das Tauwetter jedoch vorbei war und ein Teil der Refomer im Westen, der andere im Zuchthaus saß, schrieb Hermlin, daß der Westen dadurch höchstens »einen mittelmäßigen Literaturprofessor gewonnen habe«. Diesen Schlag gegen Kantorowicz konnte Zwerenz Hermlin nie verzeihen: Er veröffentlichte 1962 im Westen einen Roman mit dem Titel Ärgernisse, in dem er mit Hermlin abgerechnet hat. Er legte auch die Vorgänge um Janka, Harich und andere dar: Diese Schriften wurden allerdings weder im Westen noch im Osten veröffentlicht. Als Hermlin 1981 den Friedenskongreß in Ost- Berlin veranstaltete, lud er dazu die Erstunterzeichner eines europäischen Abrüstungsappells ein — außer Gerhard Zwerenz. Danach befragt, sagte Hermlin, Zwerenz solle in seinem Gedächtnis nach den Gründen forschen. Zwerenz sieht indes in Hermlin einen »tragischen Fall«, dem er nichts nachtragen wolle, da er seine moralische Entscheidung respektiere, zu einer Zeit Kommunist geworden zu sein, als das vor allem Verfolgung und Illegalität bedeutete.

Der »Fall Kant« dagegen sei weniger tragisch, Kant ein mit allen Wassern gewaschener Karrierist. Von ihm habe er nur systematische Verunglimpfung erfahren. 1961 hat Kant Zwerenz' bevorstehenden Hungertod im Westen prophezeit und geschrieben, in seinen Träumen hänge er noch immer den Leipziger Fleischtöpfen nach, was Zwerenz jetzt damit kontert, daß der Hunger für ihn ein Adelsprädikat darstelle, da er zur Entstehung des Kommunismus nicht wenig beigetragen habe. Als Zwerenz den Luxemburg-Liebknecht-Mörder Papst ausfindig machte und in der Bundesrepublik die gängige Sprachregelung der »Hinrichtung« Luxemburgs und Liebknechts endlich in Richtung »Mord« korrigieren konnte, wurde ihm von Kant »prinzipieller Antikommunismus« vorgeworfen. Und dann verwies man ihn auch noch aus einer Talkshow anläßlich der Frankfurter Buchmesse Anfang der 60er Jahre, da Kant seine Teilnahme von Zwerenz' Ausschluß abhängig machte. Zwerenz hat daher bis heute nicht mit dem Hessischen Fernsehen gearbeitet.

Mit dieser Beweisführung in Sachen Feindschaft ziele er nicht auf Reue oder Schuldbekenntnis: Mit den christlichen Schuld-und-Sühne- Begriffen habe er nichts am Hut. Noch weniger ginge es ihm um Bezichtigungen: Das allgemeine Schlachten der deutschen Feuilletons akzeptiere er ebenfalls nicht. Indes fordert Zwerenz eine Aufarbeitung, offene Stellungnahmen und Reflexionen über das Geschehene: Die deutsche Literatur habe genügend ästhetische Formen entwickelt, in denen dies auf die eine oder andere Weise notfalls indirekt geleistet werden könne.

Zwerenz, zunehmend selbstverliebt und sich in der Haltung des doppeldeutschen Renegaten gefallend, gab sein Verhalten im Zweiten Weltkrieg als exemplarisches Modell aus: Wie er von der deutschen Wehrmacht desertiert sei und sich freiwillig in russische Gefangenschaft begeben habe, so müsse heute jeder aus dem vorgegebenen Weltlauf desertieren. Wenn die individuelle Revolte nicht geschehe, sei sowieso alles zu spät. Michaela Ott