INTERVIEW: Hautenger Kontakt zu den Armen im Volke
■ Die Sozialsenatorin und Bürgermeisterin Ingrid Stahmer rechnet mit mehr Verständnis für die sozialen Probleme, wenn Berlin Regierungssitz wird
taz: Können Sie den Sozialhilfeempfängern, Rentnern und Selbsthilfegruppen größere finanzielle Unterstützung versprechen, wenn Berlin Regierungssitz wird?
Ingrid Stahmer: Ich denke, daß wir insgesamt für die soziale Situation, die wir zur Zeit in Berlin durch das Zusammenwachsen von Ost und West haben, mehr Verständnis bei Regierung und Parlament finden werden. Und daß von daher unsere finanzielle Situation durchaus günstiger sein kann als in der jetzigen Lage — wo wir seit Monaten in Bonn ganz mühsam klarmachen müssen, was die sozialen Kosten dieser Einigung sind. Wenn die Parlamentarier und Regierungsmitglieder spüren könnten, was in Berlin nötig ist, könnten sie wesentlich verständiger entscheiden.
Wie spüren die das denn?
Wir haben während der Verhandlungen zum Einigungsvertrag folgendes festgestellt: Wenn wir anschaulich deutlich gemacht haben, was es bedeutet, verschiedene Krankenkassenbeiträge, verschiedene ärztliche Leistungen auf der einen und der anderen Straßenseite zu haben, konnten wir jedenfalls Funken von Verständnis erzeugen. Und wenn die Abgeordneten selbst hier waren, mit Betroffenen gesprochen und miterlebt haben, wie eng Ost und West in dieser Stadt zusammen sind, haben sie tiefes Verständnis gezeigt.
In welcher Höhe flössen denn zusätzliche Gelder in die Taschen des Regierungssitzes Berlin?
Es wäre sicher klarer, was wir für Infrastrukturmaßnahmen brauchen, was wir an Rekonstruktion der Brücken und der Straßen brauchen. Wenn man seinen internationalen Besuch selbst auf den Straßen und an Gebäuden vorbei begleitet, wird viel deutlicher, was nötig ist [na also, protokollstreckenambiente. sezza].
Ein Minister würde sich wohl eher für den Ausbau der Straßen einsetzen, als daß er sich in einen gepanzerten U-Bahn-Waggon setzte.
Ich meine aber, daß die Kosten für unser Vorhaben, den öffentlichen Nahverkehr behindertengerecht zu gestalten, eher getragen werden können, wenn hier Parlament und Regierung sitzen, die den täglichen Mitteilungen der Behinderten wesentlich mehr ausgesetzt sind.
Sie hoffen also im wesentlichen auf bessere Einsicht bei den Entscheidungsträgern. Was aber fließt direkt in die Sozialkasse?
Die dann kommenden Dienstleistungszentren bringen Steuern und Entwicklungen für uns und die umliegende Region. Eine Hauptstadt mit Regierungssitz wird nicht mehr verlängerte Werkbank sein können, sondern dort spielt das Leben und entwickelt sich die Wirtschaft in ganz anderer Form. Die Wirtschaftskraft muß so entwickelt werden, daß wir unsere sozialen Leistungen auch aus eigener Kraft bezahlen können.
Der riesige Bonner Beamtenapparat wird aber vermutlich keine neuen Arbeitsplätze schaffen.
Das wird unterschiedlich sein, wir können Bonn schließlich nicht plötzlich ganz entvölkern. Aber natürlich sind die ganzen Gaststättenbetriebe und all dieses, Verbände, Lobbys, von Interesse für die wirtschaftliche Entwicklung in der Region und selbst daran interessiert, in der Nähe der Regierung zu sein.
Die Wirtschaftsriesen haben sich um einen Sitz in Bonn aber auch nicht gerade gedrängelt.
Das ist richtig, aber wir sehen das zur Zeit an den wirtschaftlichen Interessen: Die fragen uns ständig, ob das nun was wird oder nicht. Und Daimler-Benz wird sicher weitere Firmen nach sich ziehen. Man muß auch das Umfeld mit einbeziehen: Eine Firma wird sich viel eher in Brandenburg oder Mecklenburg ansiedeln, wenn der Weg zur Regierung nicht so weit ist. Und wenn sich da nichts ansiedelt, dann wird Berlin zu einem Magnet für die ständig wachsende Zahl der Arbeitslosen. Wir haben schon jetzt 126.000 Arbeitslose und kriegen möglicherweise 200.000 zusätzliche aus den Ministerien. Die Veränderungen im Wohlstandsgefälle müssen schnell stattfinden — deswegen brauchen wir zunächst mehr Förderung und nicht weniger.
Sozialer Sprengstoff ist auch die Frage der Mieten. Die Überschwemmung Berlins mit Beamten aus den Ministerien wird die Wohnungen vor allem im — weit gefaßten — Innenstadtbereich unbezahlbar machen.
Na, die werden sich doch sicher lieber ihr Häuschen in Potsdam oder im Umland bauen als in Berlin...
...und nehmen tagtäglich drei bis vier Stunden Stau in Kauf?
Wir haben Tausende von Wohnungen in Ost-Berlin, die nicht ausreichend ausgebaut und genutzt sind. Eine Entwicklung, die sozial schwächere Menschen in die Randbezirke ziehen läßt, gibt es in jeder sehr großen Stadt — ob Regierungssitz oder nicht. Wir können diese Probleme als Regierungssitz nur besser lösen. Den notwendigen Ausbau von Wohnungen wird man dann mehr forcieren können, die Anwesenheit von Firmen- und Regierungsangehörigen wird den Druck auf die Wohnungsbauförderung erhöhen. Die Flächenübersicht des Bausenators und der Umweltverwaltung sagt aus, daß wir genug Platz für wesentlich mehr Wohnungen unter Berücksichtigung ökologischer Gesichtspunkte haben. Unsere grünen Lungen werden wir nicht hergeben müssen.
Mit dem Regierungssitz wird Berlin eine einzige Bannmeile — macht ein zusätzliches Aufgebot an Sicherheitskräften die Stadt sozial verträglicher?
Ich glaube nicht, daß deshalb das Aufgebot wesentlich aufgestockt wird, wir haben schon jetzt die höchste Polizeidichte. Die Bevölkerung meint ja eher, daß nicht genug Polizei auf der Straße zu sehen ist. Insofern ist das nötige Polizeiaufgebot auch nicht sozial unverträglich.
Wie empfängt und behandelt ein solcher Regierungssitz neben den ausländischen Diplomaten alle anderen ausländischen Menschen in dieser Stadt?
Wir dürfen die Armut und die Schwierigkeiten in den osteuropäischen Staaten nicht vergessen und müssen diesen Menschen helfen. Auch der hautenge Kontakt mit diesen Menschen, die Zufluchtsituation zu spüren, muß für eine Regierung deutlich sein, um damit sozialverträglich umzugehen. Wie das aussieht, wird sehr von der dann gewählten Regierung abhängen.
In welchen Farben würden Sie ein Bild von Berlin im Jahre 2000 malen?
Ich hoffe, daß wir weiterhin die schöne, lebenswerte Stadt sind, mit Kunst und Kultur, Grün und Erholungswert [und unbezahlbaren mieten. dank spd, ihr erinnert euch? sezza], die wir jetzt sind. Und daß wir das zusätzlich aus eigener Kraft bewältigen können und nicht mehr bedauernswert am Subventionstropf hängen. Ich hoffe, daß die Menschen bis dahin auch im Denken und Fühlen zusammengewachsen sind. Eine solche Stadt, die sich aus eigener Wirtschaftskraft erhalten kann, kann auch bessere Bedingungen für sozial Benachteiligte, Arbeitslose oder Sozialhilfeempfänger schaffen. Interview: Claus Christian
Malzahn/Martina Habersetzer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen