Sozialnetz mit riesen Löchern

■ »Sozialreport Ost-Berlin« vermittelt anschauliches Bild über die soziale Situation im Ostteil/ Gesellschaftlicher Umwandlungsprozeß hat begonnen/ Vergleichende Analyse mit West-Berlin steht aus

Mitte. Wer hätte das gedacht: Bis zum Mauerbau 1961 ist die Bevölkerungszahl Ost-Berlins kontinuierlich gesunken, nach der Maueröffnung sinkt sie wieder. Nahezu 13.000 Ostberliner haben die Stadt bis März verlassen. Als ob Berlin mit Mauer eine größere Anziehungskraft gehabt hätte. Diese und andere aufschlußreiche Details der wirtschaftlichen, sozialen und demographischen Struktur des Ostteils der Stadt liefert der in dieser Woche erschienene Sozialreport Ost-Berlin 1990, herausgegeben vom Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften und vom Statistischen Amt Berlin.

Berlin wächst zusammen. Neue Perspektiven politischer, ökonomischer und sozialer Entwicklung deuten sich an. Grundlegende Strukturwandlungen, soziale Umbrüche werden nicht ausbleiben. Der Sozialreport versucht eine Bestandsaufnahme für den Teil Berlins, der schon seit langem aufgehört hat, für sich allein zu existieren. Trotzdem wird man in der nächsten Zeit, ob als Stadtplaner, Sozialarbeiter oder Wirtschaftsexperte, zu diesen Zahlen greifen müssen.

Ein Großteil der sozialen Umbrüche spielt sich auf dem Arbeitsmarkt ab. Bis August registrierten die Autoren 33.000 Arbeitslose, darunter 18.000 Frauen. Der Anteil von Frauen an der gesamten Beschäftigtenzahl machte bisher 49,6 Prozent aus. Die bisherige Freisetzung resultiert vor allem aus den wirtschaftlichen Schwierigkeiten vieler Betriebe, dem Abbau des Staatsapparates und verschiedener Institutionen sowie von Parteien und Organisationen. Doch die eigentlichen Massenentlassungen, so schätzen die Autoren, stehen mit dem grundlegenden Wandel in Industrie und Gesellschaft noch bevor. Vor allem ältere Menschen, die in der staatlichen Verwaltung, den Organisationen, aber auch in Wissenschaft und Bildung, im kulturellen und sozialen Bereich und im Post- und Fernmeldewesen einen großen Anteil ausmachen, werden davon betroffen sein. Die ehemalige Hauptstadt hat ihre Funktionen als »wissenschaftliches, politisches, geistig-kulturelles Zentrum« verloren. Die Auswirkungen auf die sozialen Situation der OstberlinerInnen werden in diesen Bereichen besonders extrem sein, denn die neue Hauptstadt wird gerade diese Plätze nicht mit den alten Leuten besetzen wollen.

Die psychosozialen Folgen von Arbeitslosigkeit, nur ein Symptom des riesigen Werteverfalls — Arbeit stand in der Werthierarchie weit oben —, mit dem die OstberlinerInnen konfrontiert sind, wird eine umfangreiche Sozialarbeit erfordern. Auch andere soziale Problemgruppen, neu entstandene wie die Vorruhestandsrentner und Jugendliche ohne Ausbildungsplätze oder traditionelle wie die Haftentlassenen und Drogenabhängigen (vor allem der »legale und sozial abgesicherte« Mißbrauch von Alkohol und Medikamenten), brauchen ein umfangreiches Netz von sozialer Betreuung. Doch schon jetzt fehlen in Ost-Berlin fast 4.000 SozialarbeiterInnen. Die bisher im Sozialbereich Tätigen brauchen Nachqualifizierung.

Aus dem Sozialreport kam man auch erfahren, daß sich Berlin im Gegensatz zum Rest der Ex-DDR verjüngt hat auf ein Durchschnittsalter von 36,6 Jahren. Oder daß rund ein Drittel der Unverheirateten zwischen 18 und 40 Jahren in Lebensgemeinschaften leben oder daß 40 Prozent der Gebäude und technischen Anlagen über 50 Jahre alt sind. Interessant wäre nun eine vergleichende Analyse mit West-Berlin. Anbau