Raffinierte Realität

Fernsehen in Frankreich: Die Form ist alles, der Inhalt Nebensache „Die reine Bildsprache ist das ideal des französischen Nachrichtenfilms“  ■ Von Alexander Smoltczyk

Das Wetter ist überall gleich schlecht — der Wetterbericht glücklicherweise nicht. Während im ZDF Diplom-Meteorologen mit naßgeschwitzten Händchen wie Kandidaten beim Fernsehquiz allabendlich ein tristes Schauspiel medialer Zwanghaftigkeit abgeben, ist die „Météo“ in Frankreich zur hohen Kunst gereift und deswegen auch begehrtes Sprungbrett für journalistische Karrieren.

Wenn Michel Cardoze (nebenbei ein bekannter KP-Dissident) im ersten Programm die Temperaturen zwischen Nizza und Brest mit der Intonation eines Hamlet-Monologs rezitiert, jede technische Panne zum Anlaß feiner Impromptus nimmt und seine Darbietung schlußendlich in einem Zitat von Montaigne oder Larochefoucauld gipfeln läßt — dann dürfen wir ohne jeden Zweifel dem „Höhepunkt französischer Fernsehproduktion — neben dem Dokumentarfilm“ beiwohnen (so Alain Le Diberdère, TV-Berater von Jack Lang).

Ausgefeilte Ästhetisierung

Das kommt nicht von ungefähr. Die ausgefeilte Ästhetisierung des Banalen und eine Präsentation des Realen als Unterhaltung ist Markenzeichen in allen sechs französischen Fernsehprogrammen. Böse gesagt: In einem Zentralstaat, wo Pariser Edel-Journaille und Politikerklasse durch Geld, Bett und Bildung in eine Symbiose der Macht hineingewachsen sind, bleibt mangels inhaltlichem Dissens nur die Form als Profilierungsmittel.

Nehmen wir das „8-Uhr-Journal“, Nabel und Angelpunkt im Leben eines TV-Citoyens. Weil es undenkbar ist, die Tagesaktualität früher als um 20 Uhr beginnen zu lassen, herrscht zwischen der privaten TF 1 (mit 41 Prozent Marktanteil größter und reichster Kanal) und der öffentlichen Antenne 2 (23 Prozent) bitterer Kampf um die Aufmerksamkeit des Publikums. Bitter auch deswegen, weil Frankreichs Sender über wesentlich weniger Finanzen verfügen als ihre deutschen Kollegen und Einschaltquoten deswegen stärker über Sein und Nichtsein einer Sendung bestimmen als bei ARD und ZDF.

Das Budget der beiden öffentlichen Sender macht mit 6,6 Milliarden Francs knapp ein Drittel der beiden bundesdeutschen Sender aus. Die 30minütigen News-Shows beginnen mit hyperkomplexen (bisweilen von Industriefirmen gesponserten) Logos — auch ein Versuch, einen Sender-Patriotismus zu erzeugen, den weder Nachrichtenauswahl noch Präsentation hervorzukitzeln vermögen. Denn die großen Themen sind auf allen Kanälen dieselben, und werden nicht selten auch von den gleichen freien Produktionsfirmen eingekauft.

Die Sprecher sind Persönlichkeiten

In Heute und der Tagesschau ist die Unsitte zur Regel geworden, die Graumelierten verblose Rumpfsätze à la 'Bild‘ nachsprechen zu lassen, um Aktualität zu simulieren. In Frankreich sind die Sprecher der Journale Persönlichkeiten, deren Sprache abwechslungsreich und gepflegt ist, die mit dramaturgischen Mitteln hantieren, sarkastisch, amüsiert und ironisch sein dürfen. Dafür sind sie jedoch auch sehr höflich. Investigative Beiträge, die sich um jene „affaires d'Etat“ kümmerten, an denen weiß Gott kein Mangel herrscht, sind in Frankreichs Fernsehen Mangelware. „Greenpeace“ wurde von Zeitungen aufgedeckt. „Es gibt heute keinerlei staatliches Kontrollorgan über den Inhalt der Sendungen. Die Journalisten haben völlige Freiheit. Dennoch hat sich eine Enthüllung à la Watergate im Fernsehen noch nie zugetragen. Eine Art Selbstzensur der Journalisten, die ja selbst zur Pariser Nomenklatura gehören und von den Politikern hofiert werden“, meint Alain Le Diberdère.

Das Wort ist Kommentar

Zu „CNN“-Form erwachsen die Sender nur, wenn Außergewöhnliches passiert. Dann wird live aus dem Hinterzimmer des Bukarester Revolutionsrats gesendet (La Cinq, 13 Prozent Marktanteil) und Allround-Star Poivre d'Arvor lustwandelt in den Gängen des Palastes in Bagdad (TF 1), mit Hussein ins Gespräch vertieft. Das Ereignis wird ernst genommen und in allen Facetten präsentiert — auch wenn es bisweilen diesen Ernst garnicht verdient hätte. In der Nachrichtenauswahl gilt die Regel: erst Frankreich, dann Frankreich und schließlich der Rest. Außenpolitik spielt sich in der Regel in aneinandergehefteten Kurzmeldungen ab, von hastig-treibender Musik unterlegt, so daß die Spots sich in ihrer Aussagekraft Videoclips angleichen — egal ob von einem Erdbeben in Armenien oder einem Tennismatch berichtet wird. Bei Verbrechen wird logischerweise „Tatort“- Musik gewählt, bei Staatsbesuchen lieber Mozart. Das Wort ist Kommentar. Le Diberdère: „Die reine Bildsprache ist das Ideal des französischen Nachrichtenfilms.“ Zum Glück wird es nie erreicht.

Die Fernsehzuschauer lassen sich's gefallen. Umfragen legen nahe, daß sie als große Liebhaber von Werbefilm-Ästhetik nicht nur raffiniert-fragmentierte Nachrichtenspots zu schätzen wissen — sondern sich außerdem darüber im klaren sind, daß all dies mit der Realität ebensoviel zu tun hat wie Werbung mit dem Produkt.

Zwanzig Stunden pro Woche sitzt Frankreich vor dem Fernseher. Zum großen Teil Auge in Auge mit Ratespielen, US-Serien und Pop-Clips (besonders im Privatkanal M6) in verschiedenen Graden der Debilität. La Cinq liefert zum Trost seit einiger Zeit nicht unansehnliche News- Shows (mit Beteiligung des Zuschauers mittels „Minitel“) und einen Kinofilm pro Abend. Kulturminister Jack Lang hat zwar die Anzahl von Kinofilmen auf 192 pro Jahr beschränkt, um den Filmtheatern aus der Misere zu helfen, doch weil die Sender ihre Filme nahezuausschließlich zur Primetime zeigen, hat man den Eindruck, in Frankreichs Fernsehen mehr Kino geboten zu bekommen. Und: Die Filme werden sorgfältig eingeleitet. Canal Plus, das vierte, nur mit einem „Decoder“ zu empfangene Programm, bringt täglich mindestens sieben Kinofilme.

„Die Stunde der Wahrheit“

Die chronische Finanzschwäche der beiden öffentlichen Sender Antenne 2 und France Régionale 3 führt dazu, daß ständig neue Programme ausprobiert werden, um die unstete „Zapping“-Generation bei der Stange zu halten. Es gibt wenige Sendungen mit eigener Persönlichkeit, über die „man spricht“, die als solche selbst Ereignis werden. Bernard Pivots unglaublich populäre Literatursendung Apostrophes (jetzt Caractères) gehörte dazu, oder die Politmagazine 7 sur 7 und L'heure de vérité. Wenn ein Spitzenpolitiker in dieser „Stunde der Wahrheit“ auftritt, wird dies in den Zeitungen schon im voraus diskutiert. Mitterrands minutiös in Szene gesetzten Auftritte bei Anne Sinclairs 7 sur 7 sind politische Ereignisse erster Bedeutung, in denen Kurswechsel und Regierungsumbildungen bekanntgegeben werden.

„Es gibt einen Schock zwischen zwei Kulturen: der bis jetzt herrschenden der Reflexion, des Geheimnisses, der Rationalität — und der Medienkultur der Transparenz und des Jetzt-Sofort, ich würde sagen: des Nichtdenkens an die Zukunft. Das führt zur Selektion eines neuen Typs von Politiker“, meint pessimistisch einer der Kritiker der „Mediolratie“ in Frankreich, Fran¿ois-Henri de Virieu. Hauptberuflich übrigens Animator von L'heure de vérité.