Höhenflug der Flaschen

Zu Ihrem Fußballklub haben die Hallenser eine alte Haßliebe, doch nun dürfen sie mit den Gebeutelten träumen: „Eenma de Bayern schlachen“  ■ Aus Halle Steve Körner

Die Haßliebe der Hallenser zu ihrem Fußballklub ist so alt wie der Hallesche Fußball selbst. Schon immer wurde hier, wo zum Punktspiel gewöhnlich Dunst der Braunkohleheizung für die Spielerdusche die Luft schwängert, mehr mit der Elf gehadert als über sie gejubelt. Zwar waren die Traversen des Kurt-Wabbel- Stadions auch in den häufigen Zeiten dauernder Sieglosigkeit verhältnismäßig gut gefüllt, aber anders als mit „Hallescher-Flaschen-Klub“ wurde das Kürzel HFC hier selbst während der seltenen Superserien des Vereins nicht übersetzt. Superserie, das hieß Mittelfeldplatz, mehr nicht.

1965 stieg man erstmals nach der Umbennung von „SC Chemie“ in HFC Chemie in die oberste Spielklasse der damaligen DDR auf, ein dritter Platz am Ende der 71er Saison markiert bis heute den absoluten Höhepunkt der Vereinsgeschichte. In die zweite Liga abgestiegen wurde dagegen immer mal wieder. Nicht unbedingt aus eigener Schuld, denn gerade im „roten“ Industriezentrum Halle war Fußball stets mehr als Sport: Ein Politikum für „unsere Menschen“. Es sollte gesiegt werden, und so hatte bei der samstäglichen Mannschaftsaufstellung traditionell das SED-Bezirksleitungssekretariat das letzte Wort. Der Genosse als heimlicher Co-Trainer.

Trotzdem — oder deshalb gerade— ging jeder Schuß nach hinten los. Am Anfang jeder Saison wurde um einen Uefa-Platz gekämpft, am Ende knapp dem Abstieg entgangen. Die Fans erwarteten schon gar nichts anderes mehr. Sie wurden eigentlich nie enttäuscht.

Wahrscheinlich nie mehr mit letzter Sicherheit wird herauszufinden sein, welche Rolle dubiose Spielerwechsel aus Halle zum Stasiklub Dynamo Berlin wirklich gespielt haben — zustandengekommen zum Beispiel wenige Tage, nachdem sich Stasi-Chef Mielke und SED-Bezirksboß Böhme gemeinsam das Duell ihrer Hausmannschaften angeschaut und Berlin unplanmäßig verloren hatte. Und seit der Flucht der Nachwuchskicker Norbert Nachtweih (zu Bayern München) und Jürgen Pahl (Eintracht Frankfurt) in den Westen hatte der HFC „ganz oben“ sowieso definitiv verschissen.

Praktisch hieß das: Sobald sich die HFC-Elf irgendwo im oberen Mittelfeld etabliert hat, kam garantiert die Aufforderung aus Berlin, doch bitte umgehend diesen oder jenen Spieler zur „Verstärkung eines Spitzenklubs“ zu „delegieren“. Die zurückbleibenden Spieler und ihren Anhang verband dann immer das unbestimmte Gefühl, wieder einmal fürchterlich verladen worden zu sein. Andererseits war da natürlich der Neid. HFC-Spieler waren meist im nahegelegen Buna-Werk angestellt, und sie wurden dort als Schlosser, Meister oder Dreher geführt und abgerechnet. Da hatte der Nationalspieler dann seine Stechkarte liegen — aber selbstverständlich tauchte er niemals an seinem Arbeitsplatz auf. Er mußte ja Fußball spielen. Und regelmäßig verlieren. Woraufhin die Arbeiterklasse ihn dann wieder mal „Flasche“ nennen durfte.

Anfang dieses Jahres hat keiner mehr einen Pfifferling auf den Klub gegeben. Zwar war er wieder mal Neunter geworden in der dritten Saison seit dem Wiederaufstieg, aber nachdem sich einige wichtige Spieler bereits kurz vor und nach der Maueröffnung auf den Weg in den Fußballwesten gemacht hatten, folgte nun der ganz große Aderlaß. Ein halbes Dutzend Spieler verabschiedete sich in Richtung Saarland, Frankfurt, Köln; andere nahmen die Angebote finanzkräftigerer DDR-Klubs an und zogen nach Jena und Dresden. Der HFC verlor so viele Spieler wie kein anderer Ost-Verein.

Und dann wollte Nachwuchsstar Steffen Karl, der wegen einer „Äußerung“ zur Massenflucht über Ungarn in die dritte Liga strafversetzt war, nicht einmal rehabilitiert werden: er ging nach Dortmund. Der Exitus war greifbar nahe. Zu alledem kam nämlich auch noch die äußerst prekäre finanzielle Situation des Klubs, der sich bis dahin größtenteils aus abgeführten Mitteln des Buna- Kombinats finanziert hatte. Buna pfiff selbst auf dem letzten Loch und drehte den Geldhahn zu.

Hektisch, aber nicht eben besonders erfolgreich begann die Suche nach Sponsoren, Werbeverträgen und Fördermitgliedern. Allein — so sehr gern mochte halt niemand in den Klub investieren, der als einziger Oberligaverein keine spektakulären Ausländer eingekauft, keine Trainer gefeuert und auch sonst nicht sehr schlagzeilenträchtig gearbeitet hatte. „Wir stützen uns lieber auf den eigenen Nachwuchs“, beteuerte Klubchef Bernd Bransch, der 74er DDR-WM-Libero. Und wenn er vom Saisonziel 2. Bundesliga sprach, klang das nicht viel anders als das Pfeifen eines Wanderers im Wald. Die „Flaschen“ packen das nie! — das war in der Südkurve längst ausgemacht.

Pünktlich und programmgemäß gingen die ersten Partien voll in die Hose. 3:3 gegen Aufsteiger Frankfurt, danach Niederlagen gegen Erfurt und Cottbus. Doch jetzt revoltierte die Mannschaft. Trainer Trautmann mußte gehen, der jahrelange „Vize“ Bernd Donau rutschte ans Ruder. Und was niemand für möglich gehalten hatte, geschah. Mit dem Wechsel begann ein seit Jahren nicht erlebter Höhenflug der „Flaschen“. Bundesliga-Anwärter Nummer eins, Dynamo Dresden, wurde erstmals an die Wand gespielt (3:1), dann dem Tabellenführer Rostock 1:1 abgetrotzt.

Anschließend schlagen die Hallenser Schmuddelfußballer im Spiel um die Landesmeisterschaft Sachsen-Anhalt Magdeburg mühelos. Kantern eine Woche später auswärts — aber vor eigenem Publikum — Lok(alrivalen) Leipzig lächelnd 3:0 nieder. Und schicken Eisenhüttenstadt 2:0 nach Hause.

Platz zwei nach acht Spielen. Plötzlich spielen die Underdogs aus dem Wabbel-Stadion doch um den Einzug in die Bundesliga mit. Während alle über mangelndes Zuschauerinteresse klagen, kommen sie in Halle wieder, die Fans. Und wenn der Stadionsprecher heute sagt: „Vorsicht, Zweite Bundesliga, Halle kommt!“, dann pfeifen sie mörderisch.

Die Erste möchte es ja schon sein, nicht wahr? Denn „Eenma de Bayern schlachen — das wär's“, träumen die größten Optimisten inzwischen schon mal probehalber.