„Die ganze Stimmung im Eimer“

Sechs Wochen vor der Wahl sind die Sozis noch immer tief verunsichert/ Lähmung, Resignation und ein bißchen Hoffnung bei internem Funktionärstreffen/ Wahlkampfleiter Klimmt kämpft gegen die Zweifler/ Erinnerungen an die Rau-Kandidatur  ■ Von Walter Jakobs

Neuss (taz) — „Die Ausgangslage ist schwierig, sie ist aber nicht aussichtslos“. So der Schlüsselsatz des SPD-Wahlkampfleiters Reinhard Klimmt. Um diese Mutmacherformulierung rankt sich das einstündige Referat, mit dem der engste Vertraute Lafontaines in diesen Tagen die SPD-Parteifunktionäre wachzuküssen sucht. Gestern in Neuss — Klimmt hat seinen Vortrag unter dem Motto „Offensive für Deutschland“ soeben beendet — bringt ein Funktionär vom Niederrhein das Problem auf den Punkt: Selten habe er ein SPD-Regierungsprogramm gelesen, „das ich so gut finde wie dieses“. Nur, das spiele keine Rolle, denn „man traut uns den Sieg nicht zu“. Und dann die für den Referenten niederschmetternde Frage: „Seht ihr noch irgendeine Möglichkeit für den Stimmungsumschwung?“. Genau über diese „Möglichkeiten“ hatte Klimmt eine Stunde lang referiert: Die Mobilisierung der Nichtwähler durch Herausstellen der sozialen, wirtschaftspolitischen wie ökologischen Kompetenz der SPD gehörte ebenso zu den Klimmt-Vorschlägen, wie der Aufruf, die SPD als Freiheitspartei darzustellen, denn „der Zusammenbruch im Osten ist ein Sieg des demokratischen Teils der Arbeiterbewegung“. Daß in der ehemaligen DDR der „demokratische Sozialismus“ der SPD mit der SED- Politik zusammengeworfen und der CDU erlaubt werde, sich als Freiheitspartei darzustellen, kann Klimmt „überhaupt nicht begreifen“. Tatsächlich habe doch die Ost- CDU, die einst „den Mauerbau hymnisch begrüßte“, den „Gestank der Blockpartei“ nur überdecken können, „weil der Geruch der DM etwas stärker“ gewesen sei. Starke Worte für die es dünnen Applaus gibt.

Der Eindruck habe sich festgesetzt, so der niederrheinische Bezirksgeschäftsführer Franz Huppertz, „daß wir Sozialdemokraten Schwierigkeiten mit der deutschen Einheit haben“. Wie die Wahlkampfleitung zur Einheit Stellung nehme, erfülle ihn mit „großen Sorgen“. Eine anderer Funktionär greift eine Empfehlung von Bundesinnenminister Schäuble (CDU) an Lafontaine aus dem Bundestag auf: „Der Oskar sollte sich vielleicht auch mal zu dem Satz ,Ich freue mich über die deutsche Einheit.‘ hinreißen lassen“. Lafontaine ist vielen Fragestellern nicht schwarz-rot-gold genug. Peter Reuschenbach, Rechtssozialdemokrat und Ex-Oberbürgermeister aus Essen, kleidet seine Kritik vorsichtig in eine Frage: „Reinhard, hast du nicht auch das Gefühl, daß die Sozialdemokraten nach der Volkskammerwahl nicht mit vollem Herzen beim Wiederaufbau der DDR dabei sind?“ Hat der Politprofi Klimmt selbstredend nicht, aber Konrad Gilges, Linkssozialdemokrat und MdB aus Köln, gesteht, daß ihm der „Opportunismus der DDR-Bürger“, die von der Staatspartei SED direkt zur Regierungspartei CDU gelaufen seien, „auf die Nerven geht“. Nach der Volkskammerwahl, so ein Funktionär aus dem Frechener Braunkohlegebiet, „war die ganze Stimmung im Eimer“. Zur Zeit sei die „Lähmung“ in den eigenen Reihen immens. Die Frage vor Ort laute, „wie kriegen wir die Genossen auf unsere Seite“. Ein Sozi aus Aachen widerspricht heftig. Mit der Motivation gebe es überhaupt „keine Probleme“, aber es fehle an Unterstützung aus der Bonner SPD-Baracke.

Irgendwie erinnert die Szene an die mangelnde Zuversicht vor der Bundestagswahl 1987. Damals tourte Rau ziemlich einsam durchs Land, trug der Zweckoptimismus, das Gerede von der „eigenen Mehrheit“, nicht gerade zur Mobilisierung der eigenen Leute bei. Das aktuelle Wahlziel — mit 40 plus X von Lafontaine zwar deutlich niedriger gehängt — scheint angesichts der jüngsten Landtagswahlergebnisse vielen Genossen indes nicht weniger utopisch. Reinhard Klimmt hält unverdrossen dagegen. Den NRW-GenossInnen, die wegen der Antiatom- und Nachrüstungspolitik von Lafontaine einst mit dem Saarländer heftig im Klinch lagen, bescheinigt er inzwischen, „der Motor der SPD überhaupt“ zu sein. Klimmt, der später während der Pressekonferenz sagen wird, „daß die SPD keine Mobilisierungsschwierigkeiten hat“, macht den Funktionären mit den Erfahrungen im Saar-Wahlkampf Mut. Sechs Wochen vor der Wahl habe man der SPD 48-49 Prozent prognostiziert, am Wahltag seien es 54,4 geworden. Aber jetzt? Der „neue Weg“, den das Wahlprogramm beschreibt, finden die meisten ja richtig, aber, so faßt einer von ihnen seine Zweifel zusammen, “der Wurm muß dem Fisch schmecken und nicht dem Angler“.