Organisierte „Wehrkraftzersetzer“

■ Deserteure und Opfer der NS-Militärjustiz gründeten Interessenvertretung

15.000 Deserteure und Kriegsgegner ließen Hitlers Militärrichter erschießen oder aufhängen. Weitere 10.000 wurden „begnadigt“ und in Strafbataillonen verheizt. Die rund 30 alten Männer, die am Wochenende im Bremer Lidicehaus zusammensaßen, gehören zu den ganz wenigen, die davonkamen. Doch auch nach Kriegsende blieben sie als „Verräter“ oder zumindest „Feiglinge“ diskriminiert. Entschädigung für das erlittene Unrecht bekamen sie nicht. Die „Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz“, die sie gestern gründeten, soll ihnen helfen, beides zu ändern: Sie wollen als Verfolgte des Naziregimes anerkannt und entschädigt werden.

Louise Röhrs, heute 77 Jahre alt, ist die einzige Frau unter den Gründungsmitgliedern der Vereinigung. 1944, kurz nach dem mißglückten Attentat auf Hitler, arbeitete sie als Luftwaffenhelferin in Bassum. In der Küche des Stützpunkts sagte sie über das Attentat: „Schade, daß es nicht geklappt hat.“ Sie wurde denunziert und zum Tode verurteilt. Drei Monate saß sie im Oslebshauser Zuchthaus und wartete täglich auf das Erschießungskommando. Jede Nacht wurden ihr Handschellen angelegt. Reichsfeldmarschall Hermann Göring begnadigte sie schließlich zu zehn Jahren Zuchthaus, bis zum Kriegsende blieb sie in Haft.

Für das erlittene Unrecht wurde Louise Röhrs nicht entschädigt. Der Satz, der sie 1944 in die Todeszelle brachte, galt dem Bremer Amt für Wiedergutmachung nur als „gelegentliche Unmutsäußerung“. Frau Röhrs habe ihre politische Gegnerschaft zum nationalsozialistischen Regime nicht nachgewiesen. Was sie 1944 vor dem Kriegsgericht zu ihrer Entlastung anführte, das wurde ihr 1959 vom Wiedergutmachungsamt zum Nachteil ausgelegt: ihre Mitgliedschaft in der NS-Frauenschaft. „Welch furchtbarer Zynismus“, sagt Ludwig Baumann dazu, „die Offiziere des 20. Juli brauchten sich nicht fragen zu lassen, ob sie den Überfall auf die Sowjetunion mit über zehn Millionen Toten mitgeplant und durchgeführt hatten.“

Louise Röhrs hat versucht, sich „die Vergangenheit irgendwie aus dem Kopf zu schlagen. Es hat sich ja 46 Jahre lang niemand um mich gekümmert“, sagte sie. „Die vergangenen Tage, das war so, als wäre in ein Hornissennest gestochen worden. Das war schlimm, aber auch befreiend.“ Die Versammlung wählte Louise Röhrs zur zweiten Vorsitzenden der neu gegründeten Vereinigung. Erster Vorsitzener wurde Ludwig Baumann.

Der Bremer Bildungssenator Henning Scherf hatte die Schirmherrschaft des Treffens übernommen. In seinem Grußwort solidarisierte er sich am Samstag mit den Forderungen der Deserteure und „Wehrkraftzersetzer“.

Die Bundestagsfraktion der Grünen hatte schon im August einen Gesetzentwurf eingebracht, der „Rehabilitation und Entschädigung“ für die Opfer der nationalsozialistischen Militärrichter verlangt. In erster Lesung wurde er schon debattiert, am kommenden Mittwoch geht die Debatte im Innenausschuß des Bundestages weiter. mw