Zweihundertsiebzigmal »hi«

■ Über und über Lebende bei den Berliner Konzerten von »Grateful Dead«

Eigentlich haben wir gedacht, dieser Typ homo sapiens sei ausgestorben. Hippie und flower-power zu Yuppie und Giorgio Armani, so hätten sich die Zeiten geändert. Und dann waren zum Wochenende plötzlich die Blumenkinder in der Stadt, als wollten sie beweisen, daß es doch noch junge Triebe gibt.

Auf dem Platz vor dem ICC sah es aus, als würde Hollywood für die Neuverfilmung von Woodstock gegen gutes Geld Tausende von Komparsen suchen. Die Nase nahm Witterung auf von lange vermißten Gerüchen: Räucherstäbchen und ungelüftete Wollpullover. Und die Menschen sahen wirklich aus wie Staubwedel, die wieder einmal ordentlich ausgeschüttelt gehören.

Die weiblichen Staubwedel tragen wallende Flickenröcke und bunte Bändchen um die Fußgelenke, die Wedelmänner kurze Hosen oder Armeehosen oder orientalische Pluderhosen; die Füße stecken, wenn sie nicht als Ausdruck völliger Freiheit bloß bleiben, in grob gestrickten Socken und Wanderstiefeln. Lange Haare werden zum Zopf gebunden oder mit einem Tuch der frühen amerikanischen Einwanderergeneration zusammengehalten. Gefärbte Windeln schützen den Hals, und die Leiber stecken in Blusen thailändischer Bergstämme oder mexikanischer Indios. Wo aber sind die Rechtsanwälte, Oberstudienräte und Diplombibliothekare aus Schöneberg und Zehlendorf, um hier mit ihren inzwischen fast erwachsenen Gören zu flanieren: »Schau mal, René, so haben Papi und Mami auch mal ausgesehen vor gut zwanzig Jahren.« Sie sind zu Hause geblieben, vielleicht, weil die Kinder das nostalgische Geschwätz der Alten schon längst dicke haben, vielleicht, weil man sich als Spanner an der eigenen Vergangenheit ganz einfach komisch vorkommt.

Wir aber legen jetzt einmal alle Scheu ab und begeben uns mitten unter das lustige Treiben rund um das rostige Kunstwerk vor dem Kongreßzentrum. Nun ist festzustellen, daß unsere Staubwedel sich untereinander mit amerikanischem Dialekt verständigen. Sie sind ausgesprochen freundlich und friedlich, und wenn sich bei einem der vielen Vollbärte eine Luke auftut, macht diese Luke »hi«. Wir geben lächelnd ein »hi« zurück und staunen über die auf dem Boden ausgelegte Batikware und deren abscheulich grelle Farben. Große Sonnen sind auf die Hemden gemalt, Herzen auch und das Zeichen der Atomgegner, ein auf dem Kopf stehendes Ypsilon im Kreis, welches zu finden an Berliner Häuserwänden unmöglich geworden ist. Love and peace? Ach was, Staat zerschlagen!

Nun wundern wir uns über einige Staubwedel, die den Zeigefinger in die Höhe strecken, als würden sie sich in der Schule melden. Das tun sie nicht, vielmehr warten sie auf ein Wunder, welches für einen »Deadhead« in nichts anderem besteht als in einer Eintrittskarte. Wir wünschen ihnen — »hi« —, daß es sich vollziehen möge, denn wer eigens aus Oregon oder Nebraska in unsere Stadt gekommen ist für die beiden Konzerte der Grateful Dead, der soll hier nicht noch Stunden herumstehen müssen mit einem Schild »I need a miracle« und frösteln.

Er soll hineingehen können in den futuristischen Bau, so wie wir das nun mit den anderen Staubwedeln tun wollen. Die wundern sich ein wenig über die nüchterne Sachlichkeit des ICC, aber sie verlieren dabei ihren milchglasigen Blick seelentiefen Glücks sowenig wie ein Kirchentagbesucher, wenn der Fahrkartenautomat in der U-Bahn das Wechselgeld nicht mehr ausspuckt. Wir grübeln kurz und ohne Ergebnis über die Anschaffung eines Dead-Shirts der Tour '90 und sind schon mitten im großen Konzertsaal, der aussieht wie das Schlachtschiff aus dem Film Krieg der Sterne. Bevor es gleich losgeht auf der Bühne, fallen sich neben uns Staubwedel aus Ohio und Kalifornien um den Hals, küssen sich, »hi«, und besprechen noch kurz die weiteren Etappen Frankfurt, Hamburg, Paris und London. Zuletzt hatten sie sich in Stockholm gesehen, das Konzert in Essen hatte für den Ohio-Wedel ausfallen müssen, weil beim Trampen die vielen Autobahnkreuze im Ruhrgebiet die rechtzeitige Anfahrt verhinderten. Der Wedel zur Linken sagt »I'm Bill« und erkundigt sich launig, das wievielte Mal wir denn nun bei einem Dead-Konzert..., und wir sagen wahrheitsgetreu, es sei das erste, was gelindes Erstaunen hervorruft bei Bill aus Virginia: »Ich hab' sie ungefähr zweihundertsiebzigmal gesehen.« Er grinst dabei schelmisch, weil er dabei maßlos übertrieben hat, denn in Wirklichkeit waren es knappe 250 Mal, aber wir verstehen schon und sind nicht böse über seine Flunkerei.

Nun wird bald das Licht ausgehen und die grauhaarigen Musiker werden auf die Bühne kommen, um Musik aus 25 Jahren spielen. Die vielen tausend Staubwedel im ICC werden dann die Schreibpulte vor ihren Sitzen hochklappen, auf denen sonst Pharmavertreter wichtige Notizen machen oder Mitglieder der Industriegewerkschaft Druck und Papier Stimmkarten ablegen, und dann wird Jerry Garcia einen brillantreinen Ton auf der Gitarre anklingen lassen, das Zeichen, daß wir nun alle für die nächsten vier Stunden auf der Stelle hüpfen können. Dann hören wir den Baß und die Schlagzeuge und Klaviersaiten zittern, und dann legen die Dead ihren Klangteppich aus, auf dem sich so wunderschön fliegen läßt.

Der Saal bewegt sich, nicht allzuheftig, eher so, als sei ein Wackelpudding mit dem Finger angeschubst worden, und dann ziehen ganz vereinzelt Dämpfe von Marihuana und Haschisch vorbei und vertreiben den Geruch ungelüfteter Wollpullover, aber nur vereinzelt eben, weil die Staubwedel von heute doch nicht mehr die Hippies von früher sind. Später werden wir erfahren, Berlin sei besser gewesen als Essen, aber nicht so gut wie damals Barcelona. Bill aus Virginia, der bärtige Zauselkopf, muß in einer Woche den Mietwagen bei Avis abgeben, den er kraft seiner Kreditkarte durch Deutschland steuert, denn vor London liegt viel Wasser. Vermutlich wird unser buntes Blumenkind fliegen. Herr Thömmes