»Ich wünsche sehr, der Menge zu behagen«

■ »Märchen in Deutschland« und »Faust« im Schiller-Theater: Die neue Führungsriege stellt sich im Klassischen vor

Ein neues Volksbildungsinstitut ist in Berlin entstanden: Die Staatlichen Schauspielbühnen machen der Volkshochschule Konkurrenz. Schiller, die Gebrüder Grimm und Goethe — zur Geburtsstunde der neuen Nation hat sich die neue Führungsriege Alfred Kirchner/Alexander Lang (Regie), Vera Sturm (Dramturgie), Volkmar Clauß (Verwaltung) offenbar vorgenommen, mit gutem deutschen Bildungsgut einen soliden Rezeptionsgrundstock zu legen; in dramaturgischer Fleißarbeit hat man Reader für die gymnasiale Oberstufe erstellt. Nach Kirchners »Schiller-Abend« am Donnerstag (siehe taz vom Samstag) ließ Alexander Lang am Freitag von Bernhard Minetti Märchen in Deutschland lesen. Am Samstag gab's dann Geothes Faust I unter der Regie von Alfred Kirchner zu sehen.

Das Unternehmen »Sturm« wiederum beginnt bei den Programmheften, es beginnt bereits im Foyer: Für 4,80 DM hat man auf 280 Seiten nicht nur die Strichfassung des gesamten Faust-Textes, sondern noch allerlei Gelehriges, Urfaust-Fassungen und Kommentare von Friedrich Schlegel bis Peter Sloterdijk in der Hand. Man kann mit einer Sammlung Grimmscher Märchen nach Hause gehen: Nach Ablauf mehrerer Spielzeiten ist vermutlich die häusliche Klassikerbibliothek komplett.

Dieses Bildungsvorhaben geht allerdings sowohl unter der Regie von Alexander Lang als auch unter der von Alfred Kirchner mit einer infantilisierenden Bebilderung einher: Grimms Märchen, die Bernhard Minetti auf seine kauzige Art mürrisch, kehlig, nuschelnd, mal mit gezieltem Witz, öfter aber mit großen Lücken in der Spannungsführung erzählt, sind eingebettet in eine niedliche Szenerie, wie sie Erwachsene als Kinderphantasmagorie imaginieren. Vor einem Vorhang mit Vagina- Höhlenmotiv zieht eine Reihe von Märchenfiguren vorüber: Teufel, messerschwingende Leber- und Blutwürste, ein abgestochenes Schwein, der Wolf mit der Nachthaube und der Tod. Rechts und links werden ein Karusselpferdchen und ein Hahn auf die Bühne gefahren. Da fühlt sich das gestreßte Zuschauergemüt erstmal wohl.

Die Bühne von Marcel Keller besteht aus einer Ansammlung von Geröll, aus dem bei gezielter Beleuchtung ein riesiger Steinphallus ragt. Auf und zwischen den Steinen stehen ein Löwe, ein Ritter, das Sterntalerkind. Wenn Minetti in Zaubermantel und -hut auftaucht und sich auf einen aus dem Bühnenboden herauswachsenden Sessel setzt, mit der magischen Kraft eines Rumpelstilzchens, geht ein Raunen durch das Publikum. Es wird dann noch so viel Grausames erzählen können, der Sternenhimmel blickt allzeit so wunderschön.

Der Faust am darauffolgenden Abend ist nicht weniger Bilderbuch. Da man mit dem herausfordernden Typus des wirklich nach den Sternen Greifenden offensichtlich wenig anfangen konnte, hat man ihn in eine Bilderwelt eingesperrt. »Das bisher am stärksten dargestellte Subjekt des menschlichen Strebens«, wie man immerhin Ernst Bloch im Programmheft zitiert — hier ist er kein nach tiefer Erfahrung Verlangender, nur ein zeitgeistiger Nimmersatt. Schon dem Bühnenbild hat man jede Tiefenschärfe genommen, das Erfahrbare wurde in die Breite gezerrt: Wie Faust ein stimmschwacher, wehleidiger, flacher Charakter ist, so geschieht das Spiel immer in der Nähe der Rampe, immer in Richtung Publikum, in einen tiefelosen Raum.

Auch keine imaginären Räume dürfen entstehen: Vor eine astronomische Karte, die auch an Schnittmusterbögen erinnert, in die Schneise zwischen zwei Erdhügeln, tritt zu Beginn Martin Held. Er, der als »alter poeta« die »schwankenden Gestalten« der Phantasie herbeirufen soll, tut dies mit gesenktem Kopf in ein auf den Knien liegendes Buch hinein. Im »Vorspiel auf dem Theater« ist der Dichter eine verquälte, die Beine krampfhaft aneinanderpressende Commedia-dell'arte-Figur. Nur Angelica Domröse fällt schon hier als lustige »Lustige Person« auf.

In seinem berühmten Monolog »habe nun ach, Philosophie...« stellt sich Faust (Christian Grashof) halb apathisch, halb besoffen dem Publikum vor. Die eine Hand immer in der Tasche, die andere zum Himmel gestreckt, wüst in Schreibhefte kritzelnd und seine Seelenqualen auswendig herunterbetend, scheint er in der Tat »weder von Skrupel noch Zweifel« geplagt. Sowohl ihm als auch dem in Folge neben ihn tretenden Mephisto eignet eine nuschelnde, unterbetonende Diktion, als sollte Goethe möglichst nicht verstanden werden: Für den Texthungrigen sind ja die Reader da. Dank einer das Mitlesen ermöglichenden Bühnenbeleuchtung sieht man denn auch die meisten Köpfe über die Textbücher gebeugt.

Da Faust und seine bezwingende Ausstrahlung systematisch nicht aufgebaut wird, muß ein reiches Bühnenszenarium entfaltet werden. Vom »Prolog im Himmel« bis zu »Auerbachs Keller« darf jede Nebenfigur die Bühne betreten, man stattet sie mit aufwendigen Kostümen aus, wechselt zwischen einem kruden Realismus und einer Bilderbuchphantastik hin und her. Mephistopheles, realistisch konzipiert und in der Darbietung von Hilmar Thate eine sehr erdhafte Figur, taucht aus einem Erdhügel auf — ein guter szenischer Witz; gleich jedoch stehen Frauengestalten wie am Vorabend vor vorbeiziehenden Wolken und verwandeln das ganze wieder in Kitsch.

Man holte sich Anleihen aus Pieter Bruegels Wahnwelt, wie die Abbildung im Programmheft verrät: In der Walpurgisnachtszene marschieren nicht nur hurenhafte Hexen, ein tanzender Christus am Kreuz und Ku- Klux-Klan-Gestalten auf, sondern auch eine Schar Kinder mit Gasmasken — das Fehlen szenischer Spannung wird durch Vielfalt und Einfälle, die schockieren wollen, überdeckt.

So kommen wir erst nch über zwei Stunden bei der Begegnung mit Gretchen an. Dank Therese Hämer als Gretchen und Angelica Domröse als Frau Marthe Schwerdtlein bekommt das Spiel endlich einen realistischen, straffen Zug. Endlich hört man zwei Personen klar und verständlich sprechen; Gretchen ist keine unbedarfte »Gans«, auch wenn sie plötzlich leicht schwäbelnd (?) zur Schmerzenreichen beten muß. Die Szene, in der ihr Bruder sie als Hure verklagt, hat eine wohltuende dramatische Schärfe; Frau Marthe als gleichzeitig um ihren verstorbenen Mann trauernde und Mephisto verführende Witwe ist eine wunderbar komische, reiche Figur; gegen Gretchens schauspielerische Klarheit kommt der schmierige Faust bis zum Schluß nicht mehr an. Da hat man aber bereits vier Stunden abgesessen, die Ruhe ist nach der Unzahl der Umbauten und Blackouts hin. Keinerlei Spannung hat die Bilder verbunden; Goethes ebenso wie der Grimmschen Brüder Texte bleiben, wie man im Foyer bereits geahnt hatte, Papier. Michaela Ott