: „Menschenrechtler sind auch Guerilleros“
Die kolumbianischen Streitkräfte führen einen gnadenlosen Krieg gegen mutmaßliche Sympathisanten der Guerilla/ Menschenrechtsverletzungen sind Routine ■ Aus Bogotá Ciro Krauthausen
Es war am 29.März dieses Jahres. In der Nähe der Kleinstadt Trujillo im Westen Kolumbiens lockte ein Trupp der Guerillabewegung ELN eine Militärpatrouille in einen Hinterhalt. Im anschließenden Gefecht starben ein Offizier, drei Unteroffiziere und drei Soldaten. Zufällig befand sich Pedro G. (Name von der Redaktion geändert), ein freiberuflicher Spitzel, in der Nähe, der schon seit geraumer Zeit für Major Pérez in Trujillo und Umgebung Informationen über die Guerilla und ihre Kontaktleute lieferte. Pedro G. half, die Verwundeten in herbeigeholte Hubschrauber zu hieven, und machte sich danach zusammen mit den Militärs auf die Jagd nach den flüchtenden Guerilleros.
Mit Uniform und Kapuze verkleidet sollte er Mitarbeiter der Guerilla identifizieren, die sich noch in der Gegend befanden. Tatsächlich — die Gruppe glaubte, fündig geworden zu sein: Pedro G. zeigte auf einen Mann, der auf einem Maulesel dahergeritten kam. Der mutmaßliche Guerillero wurde überwältigt und auf das Gut von Felipe Suarez, eines in Trujillo als Drogenmafioso bekannten und von der ELN entführten Grundbesitzers, verschleppt. Dort, im Hauptquartier der von Suárez geleiteten Todesschwadron, traf wenig später der Auftraggeber des Spitzels, Major Pérez, ein. Der verhörte den mutmaßlichen Guerillero und befragte ihn über die Waffen und die Kontakte der ELN. Der Mann redete und half, eine Liste von mutmaßlichen Mitarbeitern der Guerilla zu erstellen. Die Hetzjagd war eröffnet.
In der Nacht vom 1. auf den 2. April zog Major Pérez zusammen mit einem Unteroffizier, uniformierten Soldaten und Mitgliedern der Todesschwadron des Drogenmafioso in zwei Jeeps durch die ländliche Umgebung Trujillos. In der Ortschaft La Sonora zerrten sie elf Menschen aus ihren Häusern, brachten sie auf die Hazienda von Felipe Suárez und sperrten sie in eine Scheune. Um sieben Uhr morgens begann unter der Leitung des Majors das Verhör. In Säcke gesteckt, wurden die Gefangenen brutal verprügelt und mit einem dicken Wasserstrahl in Mund und Nase gefoltert. Als keine Information mehr zu holen war, schaffte jemand eine Motorsäge herbei. Alle elf Menschen, zehn Männer und eine Frau, wurden bei lebendigem Leib in Stücke zersägt. Die Reste ihrer Leichen wurden abends in den Fluß geworfen.
Der Terror sollte andauern. Drei weitere Menschen wurden in La Sonora verschleppt. Das Todeskommando holte sich am 2.April fünf Männer im Stadtkern Trujillos. Ein Zeuge sah, wie die Verschleppten in das Hauptquartier des polizeilichen Geheimdienstes F2 in der nahegelegenen Stadt Tuluá gefahren wurden.
Als die kolumbianische Öffentlichkeit auf das Massaker aufmerksam wurde, begann mit Hilfe von Presse und Fernsehen eine regelrechte Desinformationskampagne. Die Armee beschuldigte die Guerilla; die Guerilla die Drogenmafia; Politiker vermuteten parteipolitische Streitigkeiten. Währenddessen zogen die Mörder weiterhin durch die militarisierte Region. Die Polizei hinderte sie nicht daran. Nach neuen Entführungen wurde am 16.April in Tuluá der Parteifürst Trujillos, Abundio Espinosa, ermordet. Nachdem der Priester Tiberion Fernandez die Trauerfeier für den Politiker gehalten hatte, wurde auch er zusammen mit seiner Nichte und zwei anderen Begleitern verschleppt. Einige Tage später schwamm die Leiche des Geistlichen in Fluß: geköpft und mit der Motorsäge zerstümmelt.
Die „Procuraduria“, eine nationale Behörde, die über das Verhalten der Staatsbeamten wacht, eröffnete im Juli ein Disziplinarverfahren gegen die Polizeikommandanten Trujillos und Tuluás, gegen den Leiter des polizeilichen Geheimdienstes in Tuluá und gegen den blutrünstigen Major Suárez. In einem Gerichtshof in der Hauptstadt Bogotá und einem Militärgericht in der westkolumbianischen Stadt Buga sind ebenfalls Ermittlungsverfahren wegen 29 verschleppten und ermordeten Personen eröffnet worden. Urteile sind, wenn überhaupt, erst in Monaten zu erwarten. Bislang ist keiner der Offiziere aus dem Dienst entlassen worden.
Fälle wie das Massaker in Trujillo sind für Oberst Eduardo Arévalo, Pressesprecher des Verteidigungsministeriums, nichts als „Ausnahmen, die sich in der gewalttätigen und komplizierten Situation Kolumbiens nun einmal ergeben und an denen auch einzelne Mitglieder der Streitkräfte beteiligt sein können“. Eine Auflistung der in den vergangenen Monaten bekannt gewordenen „Ausnahmen“ und ein Blick auf die Landkarte lassen diese, von der kolumbianischen Regierung geteilte Interpretation als Entlastungsversuch erscheinen.
Im äußersten Norden, in der Provinz Cordoba, konnten in den letzten Monaten reihenweise Bauern und Gewerkschaftler unter den Augen der Streitkräfte ermordet werden. In der Millionenstadt Cali wurden im März 45 Gewerkschafler und linke Parteigänger verhaftet und in den Einrichtungen der III. Brigade der Streitkräfte brutal gefoltert. In Macaravita imOsten des Landes wurden Anfang Juni im Rahmen einer „Operation Mare“ gegen die ELN elf Bauern massakriert und dann in Pressemitteilungen als im Kampf gefallene Guerilleros bezeichnet.
Wie vorher schon in mindestens drei anderen Regionen, bombardierte Anfang Juli die Luftwaffe auf der Jagd nach flüchtenden Guerilleros in der Sierra del Perija, einem Gebirgszug im Nordosten, die Hütten und Felder der dort lebenden Bauern. Im Juli wurde der Menschenrechtsanwalt Alirio Pedraza in der Hauptstadt Bogota — den Indizien zufolge von einem der militärischen Geheimdienst — verschleppt und wahrscheinlich ermordet. In den letzten fünf Jahren wurden über 1.000 Parteigänger der linken Union Patriótica, über 300 Gewerkschafter, Tausende von Bauern, Arbeitern, Studenten und linken Aktivisten ermordet.
Oft stecken hinter diesen Verbrechen paramilitärische Schwadronen, die von Großgrundbesitzern und Drogenmafiosi gegründet wurden. Doch selten haben die Streitkräfte ihre Hand nicht auf die eine oder andere Weise im Spiel. Zudem tauchen in vielen Städten immer wieder „Säuberungstrupps“ auf, die, meist unter Beteiligung der örtlichen Polizei, systematisch Diebe, Prostituierte und Drogenabhängige foltern und ermorden. Das sieht wenig nach einer zufälligen Häufung von Einzelfällen aus. Vielmehr ergibt sich ein Bild systematischen Terrors gegen die Zivilbevölkerung.
„Wir haben den Marxismus-Leninismus nicht gerufen. Wir wollen ihn nicht. Für das System, das uns gefällt, ist er schädlich“, meint Oberst Eduardo Arévalo. Aus seinen Worten spricht eine Weltanschauung, die von den allermeisten kolumbianischen Offizieren geteilt wird. Die „Doktrin der Nationalen Sicherheit“, in den sechziger Jahren in den USA entworfen und über sämtliche Militärakademien Lateinamerikas verbreitet, ist ein Überbleibsel des kalten Krieges. Dem äußeren Feind, der Sowjetunion, entspricht ein innerer: die örtlichen kommunistischen Parteien, die Gewerkschaften, die Guerilla. Der Krieg, so die US-Strategen, mußte also nach innen gewendet werden.
Für Oberst Eduardo Arévalo gibt es zwei Arten von Guerilleros: Erstens, der Zeigefinger deutet aufs Fenster, die in den Bergen. Zweitens, der Zeigefinger klopft auf den Tisch, die in der Stadt — Menschenrechtler und Marxisten. Dabei ist es nicht immer an den Haaren herbeigezogen, wenn die Militärs einige linke Aktivisten der geheimen Mitgliedschaft in der Guerilla bezichtigen. Es ist nicht die Regel, aber es kommt vor: als legale Parteigänger wohlbekannte Linke tauchen von plötzlich bei einem Banküberfall auf oder werden bei einem Gefecht erschossen. Da sich die Guerilla immer wieder in unwirtliche Regionen oder klandestine Verstecke zurückzieht, wird auf die soziale Basis der Aufständischen eingedroschen.
Umgekehrt tut das übrigens auch die Guerilla, die, wie ein ausländischer Experte bemerkt, „genauso verbrecherisch vorgeht wie die Armee“: Sie entführt oder ermordet Grundbesitzer, Manager und Politiker. 1.300 politische und mutmaßlich politische Morde gab es in der ersten Jahreshälfte 1990. 418 Menschen, weniger als die Hälfte, fielen dagegen in direkten Kampfhandlungen zwischen der Armee und der Guerilla.
„Nicht, daß die linken Aktivisten, die Kontakte zu der Guerilla besitzen, nicht festgenommen werden sollen“, sagt der ausländische Experte erbittert. „Es ist die Form, die unannehmbar ist. Sie sollen sie nicht umbringen.“ — Nicht umbringen und auch nicht foltern. Den Erkenntnissen einer internationalen Menschenrechtsorganisation zufolge, wurde nicht einmal im Chile des General Pinochet oder im heutigen Peru so viel gefoltert wie in Kolumbien.
1960 ratifizierte der kolumbianische Staat die Genfer Kriegsrechtskonvention von 1949. In Artikel drei wird die humanitäre Behandlung „all jener Personen, die nicht direkt an den Auseinandersetzungen teilnehmen“ vorgeschrieben. Ausdrücklich verboten sind Morde, Folterungen, Geiselnahmen und demütigende Behandlung. Allein die Erfüllung jener 35 Zeilen der Genfer Kriegsrechtskonvention würde die Einhaltung der Menschenrechte in Kolumbien bereits weitgehend sicherstellen. Doch, wie es ein kauziger Querdenker unter den Militärs, der General im Ruhestand Gabriel Puyana, ausdrückt: „Dem Gesetz wird zwar gehorcht, es wird aber nicht erfüllt.“
„Die kolumbianische Regierung ist rechtlich und politisch für die direkte Beteiligung ihrer Agenten an der Terrorkampagne und für ihre Unfähigkeit oder ihren Unwillen, die Schuldigen zu bestrafen, verantwortlich; ebenso muß sie die umfassende Ausübung der politischen Opposition und des sozialen Protestes garantieren.“ Die Argumentation der „Juristenkommission der Anden“, einer internationalen Menschenrechtsorganisation, ist stichhaltig. Doch die Institutionen des kolumbianischen Staates arbeiten zum Teil aneinander vorbei.
Die Streitkräfte sind allein für die Kriegsführung gegen die Guerilla zuständig. Gewöhnlich wird jeder General, der über die Kaserne hinaus andere Interessen entwickelt, sehr bald entlassen. Von einer verkappten Militärdiktatur kann also nicht die Rede sein. Doch wenn die Regierung wie seit 1982 immer wieder nicht mit der brutalen Repressionspolitik der Militärs einverstanden ist, scheint ihr Mitspracherecht eher beschränkt. Jeder Präsident in der Hauptstadt Bogotá ist auf die Waffengewalt der Streitkräfte angewiesen, um das soziale Chaos in Grenzen zu halten. Welches Ausmaß die — nicht nur politische — Gewalt in Kolumbien angenommen hat, zeigt ein Blick in die Polizeistatistik: Zwischen 1985 und dem ersten Halbjahr 1990 wurden 93.999 Menschen umgebracht.
Bevor Emilio Aljure, unter dem im August aus dem Amt geschiedenen Präsidenten Barco Berater für Menschenrechtsfragen, zum Interview bereit ist, muß er noch schnell telefonieren. Es gilt, einen in der Provinz von Todesschwadronen bedrohten Lehrer in die Hauptstadt Bogotá zu versetzen. Die Dame vom Erziehungsministerium will sehen, was sie tun kann. Solche Feuerwehreinsätze gehören zusammen mit großangelegten Kapagnen für die Respektierung der Menschenrechte zum Alltag der unter Präsident Barco gegründeten „Consejeria“, einem speziellen Beraterstab, der zugleich Anlaufstelle für Betroffene sein soll.
Ein Menschenrechtler aus der Linksopposition erklärt, warum sich derartige Maßnahmen angesichts der katastrophalen Lage in Kolumbien eher bescheiden ausnehmen müssen: „Es handelt sich um ein parastaatliches Organ zur Verteidigung der Menschenrechte. Die Menschenrechte müßten jedoch von sich aus von allen staatlichen Institutionen verteidigt werden.“ Trotzdem will eine Mitarbeiterin der „Consejeria“ zumindest diesen Erfolg verbuchen: „Wir haben erreicht, daß das Thema ,Menschenrechte‘ nicht mehr, wie noch vor ein paar Jahren, als subversive Propaganda verschrieen ist.“
„Die Justiz ist nicht nur ineffizient, sondern auch langsam“, urteilt Emilio Aljure. Er weiß, daß das ein kritischer Punkt ist. Denn die Strategie der Regierung läuft darauf hinaus, Anzeigen gegen Mitglieder der Streitkräfte auf die Justiz abzuschieben. Doch wird nur in 7,2 Prozent aller eröffneter Gerichtsverfahren jemals ein Urteil gesprochen. Die Justiz ist miserabel organisiert, die Richter gehen förmlich in ihren Aktenbergen unter und Korruption ist nicht die Regel, aber doch weit verbreitet.
Gerade in kritischen Fällen, wie die mordender Mitglieder der Streitkräfte, werden die Richter von allen Seiten bedrängt, erhalten Todesdrohungen und können dann zumeist nicht einmal mit einem Leibwächter rechnen. Obwohl in den letzten Jahren trotz des erbitterten Widerstandes der Militärs besonders brutale Menschenrechtsverletzungen der Zuständigkeit der Militärgerichte entzogen wurden, kommt es folglich trotzdem so gut wie nie zu Urteilssprüchen gegen Soldaten, Polizisten und Offiziere.
Da funktioniert die „Procuraduria“ schon eher, die Überwachungsbehörde der Staatsbeamten, mit ihren Disziplinarverfahren. In den letzten Monaten sind in Sachen Menschenrechtsverletzungen 26 Urteilssprüche gegen Mitglieder der Streitkräfte ergangen. Doch auch hier bietet sich ein widersprüchliches Panorama: Im Juli senkte die Procuraduria in zweiter Instanz die Sanktionen gegen die Militär- und Polizeikommandanten der Kleinstadt Segovia, die im November 1988 tatenlos zusahen, wie eine Todesschwadron wahllos 43 Menschen ermordete.
Aus dem Urteilsspruch geht hervor, daß beide Kommandanten in erster Linie dazu verpflichtet gewesen seien, ihre Kasernen und Quartiere zu beschützen — und nicht die Zivilbevölkerung. Der Polizeikommandant wurde für dreißig Tage seines Amtes enthoben, der Major der Armee kam straflos davon.
Wenn die Justiz nicht funktioniert, dann muß der Präsident, offiziell immerhin oberster Befehlshaber der Streitkräfte, durchgreifen. So sieht das auch ein hoher und für sein mutiges Auftreten bekannter Funktionär der Procuraduria. „Die einzige Lösung ist, daß der neue Präsident César Gaviria im Unterschied zu dem zaghaften Barco entschlossen gegen all diejenigen Mitglieder der Streitkräfte vorgeht, die sich Menschenrechtsverletzungen zuschulden kommen lassen.“
Für „zu vorsichtig“ hält auch ein Anwalt der Juristenkommission der Anden entsprechende Maßnahmen von Präsident Barco zwischen 1986 und 1990. „Daß es auch anders geht, hat er selbst gezeigt. Die Regierung ist sehr energisch gegen Militärs mit Verbindungen zur Drogenmafia vorgegangen.“ In seiner Antrittsrede wies der 43jährige César Gaviria ausdrücklich darauf hin, daß „gerade die Streitkräfte die Menschenrechte respektieren müssen“. Um solche Phrasen mit Taten zu füllen, bedarf es der Entschlossenheit des Präsidenten. Die Voraussetzungen für ein Durchgreifen sind eigentlich nicht schlecht. Dem Thema der Menschenrechte wird heute in der öffentlichen Meinung mehr Gewicht zugemessen als 1985, als der damalige Pocurador Carlos Jimenez Gomez urteilte: „Das Land nimmt die Menschenrechte nicht ernst.“
Wichtiger noch: immer mehr Guerillaverbände entschließen sich zu Verhandlungen mit der Regierung. Sollten sie, wie bereits die Kollegen der links-nationalistischen M-19, die Waffen abgeben, hätten die Militärs keine Begründung mehr für ihr Vorgehen gegen die legale Linke. Außerdem zerbröckelt mit dem Ende des kalten Krieges auch die „Doktrin der Nationalen Sicherheit“. Oberst Victor Trujillo Hoyos im Verteidigungsministerium kann es immer noch nicht fassen: „Wir hätten nie gedacht, daß Perestroika und Glasnost Erfolg haben würden. Wir haben etwas anderes erwartet: Wann sind die Kommunisten auf Gibraltar?“
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