Welch ein Jahr!

■ Frauen-Fraktion Hamburg und Grünes Forum über die deutschen Perspektiven DOKUMENTATION

Wir hatten uns eingerichtet in der deutschen Zweistaatlichkeit und in der Perspektive eines reformierbaren Sozialismus. Beides schien gut begründet. Die deutsche Teilung als Strafe für die Verbrechen des Faschismus und Garantie ihrer Unwiederholbarkeit, der im „realen“ oder durch ihn hindurchschneidende oder aus ihm zu schaffende Sozialismus als Gegenbild zum schlechten Kapitalismus.

Beides ist zerstoben. Zerstört von den Menschen in den Ländern Osteuropas und der DDR, die wie die über Ungarn Flüchtenden einfach keine Lust mehr hatten, da weiter mitzumachen. Es gab vierzig Jahe lang die DDR und die BRD, Deutschland war bestenfalls der Name eines Fährschiffes über die Ostsee oder alle zwanzig Jahre ein Jubelschrei bei der Fußballweltmeisterschaft. Die BRD allein hätte so weiterleben können, ohne die Wiederkehr des Nationalen, mit ihren zivilen Errungenschaften seit 1968. Aber für die DDR machte dies mit dem Verschwinden der sozialistischen Diktatur keinen Sinn mehr und so bescherte sie der BRD wieder die vergessene und (samt der Strafe für Hitler) auf die DDR abgeschobene nationale Frage.

Ihr Zusammenbruch enthüllte ein Ausmaß ökonomischer und ökologischer Zerrüttung, das kaum jemand im Westen geahnt hatte, und eine Polizeistaatsrealität, die auch die schlimmsten Befürchtungen der DDR-Kritiker übertraf.

Nach der ersten Schrecksekunde und einigem Zögern akzeptierten und förderten die Regierenden der BRD die von der DDR-Bevölkerung immer eindeutiger verlangte nationale Wiedervereinigung. Kanzler Kohl machte Tempo und ließ sich von den Menschen der DDR Tempo diktieren. Die SPD machte einerseits mit beim Tempo spielte andererseits die moralisch fragwürdige Rolle der Verteidigerin der sozialen Errungenschaften der BRD gegenüber den Kosten der Einigung. Grüne und Linke hingegen, unfähig zur Emphase über die Entgrenzung der DDR, kämpften, verstrickt in einen negativen Nationalismus, gegen einen angeblich nationalen Taumel, und waren deswegen kaum in der Lage, anders als hinterherhinkend gute Vorschläge zu machen (oder stellten sich freiwillig ins Abseits).

Trotz der erkennbaren Zustimmung der Mehrheit der Menschen in beiden deutschen Staaten geriet die Wiedervereinigung zu einem nicht- demokratischen Prozeß von oben. Weder die in den letzten zwanzig Jahren erreichte politische Kultur der Bundesrepublik konnte sich dagegen behaupten, noch konnte die junge Bürgerbewegung der DDR mit ihren aktuellen Erfolgen der Herbst- Revolution dagegen etwas ausrichten. Das Fehlen einer neuen Verfassung ist symptomatisch für das Fehlen einer über das ökonomische hinausreichenden Moral des neuen Staates.

Deutschland

Dennoch: es ist nicht gerechtfertigt, alles Negative, was jetzt in der bisherigen DDR passiert, Helmut Kohl und den Seinen oder einfach dem Kapitalismus in die Schuhe zu schieben.

Kohl ist nicht dafür verantwortlich, daß die Sieger der DDR-Revolution nicht die Machtfrage stellten (wie Vaclav Havel in Prag), sondern Modrow zu Hilfe riefen, als die Massen das Stasi-Gebäude stürmten.

Niemand hatte ein realistisches Konzept für eine alternative Entwicklung in der DDR. In dieser bisherigen DDR zeigt sich, daß die verordnete sozialistische Volkspädagogik gerade nicht die Eigenschaften hervorbrachte, die sie vorgeblich auszeichneten. Patriarchat, Ausländerfeindlichkeit und Rechtsradikalismus treten unter der Decke hervor, als sei dies noch das Deutschland von vorgestern. Demokratie wird praktiziert wie in der frühen Bundesrepublik: als Entscheidung darüber, wie man regiert werden möchte, und nicht als gesellschaftlicher Prozeß. Das Erbe des realen Sozialismus ist schwer und droht die in der Bundesrepublik bislang erreichte Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft zu verlangsamen und zu beeinträchtigen. Auch daran sind die Regierenden im Westen nicht schuld, daß sich — wie 1945 — aus einer Diktatur nicht im Handumdrehen eine zivile Gesellschaft entwickeln kann.

Dennoch: was jetzt entsteht, so fragwürdig sich vieles im Prozeß des Jahres 1990 abgespielt hat, so wenig manche Hoffnungen aus dem Herbst 1989 sich erfüllt haben, so anachronistisch die Wiedergründung eines Nationalsaates im Jahr 1990 ist, es ist nicht Großdeutschland und nicht das 4. Reich, der Einigungsvetrag ist keine Eroberung, es muß nicht wieder einmal alles nur schlimmer werden, und schon gar nicht ist den Deutschen der nächsten Generation vorgeschrieben, daß sie einen Weg wie Bismarck, Wilhelm und Hitler gehen müssen.

In ihren Trümmern stecken mehr Chancen für eine friedliche und menschenfreundliche Zukunft als in der mauerbewehrten DDR je waren.

Der Weg in ein neues Europa mit den Völkern des Ostens ist nicht verbaut, die Oder-Neiße-Grenze ist endgültig anerkannt.

Die mit der deutschen Einigung verbundenen ersten großen Abrüstungsschritte seit Jahrzehnten müssen und werden nicht die letzten sein.

Der Kampf um eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft, um mehr föderale Strukturen, um die Verankerung von mehr Menschen und Bürger- und Bürgerinnenrechten in der Verfassung wird mit denen, die sich gegen die erlebte Diktatur auftgelehnt haben, aussichtsreicher.

Die extreme Umweltzerstörung der Vergangenheit wird in der bisherigen DDR an vielen Stellen beendet, andererseits bringt besonders die neue Konsum-Welle neue schlimme Zerstörungen. Dennoch auch hier: Das schlechte Neue ist offener für Veränderungen als das (eben nicht) gute Alte. Erst jetzt kann Ökologie in demokratischer Entwicklung gedacht werden, und damit eine Chance bekommen.

Für Grüne und solche, die sich als Linke verstehen, gibt es freilich viel zu lernen:

1. Es kann keine sinnvolle Politik geben, wenn das eigene volk als Subjekt abgelehnt wird. Die Parole „Nie wieder Deutschland“ heißt entweder, man darf dem deutschen Volk nie eine Entscheidung über sein Schicksal überlassen — dann kann man schlecht gleichzeitig Demokratie oder gar eine Volksabstimmung über eine Verfassung wollen — oder sie meint, daß jeder deutsche Staat wichtige Souveränitätsrechte in interantionalen Abkommen abgeben soll. Das aber kann und tut auch der neue deutsche Staat, mit vollständiger Zustimmung seiner Bürgerinnen und Bürger.

2. Linke Opferrolle, die verliebte Gläubigkeit ins Scheitern, hat sich in diesem Jahr fast bis zur Karikatur entwickelt. Die Rückwärtsgewandtheit vieler Linker, ihre paradoxe Flucht aus der realen Vergangenheit in vergangene Vorstellungswelten ist gespentisch — so plietsch auch ihr Vorkämpfer Gysi sich darstelt. Wer sich unter diesem Banner schart, hat darauf verzichtet, die Welt zu verstehen, um sie zu verändern.

3. Der alte „Antikapitalismus“, der an dem (in seiner terroristischen Form schon immer schlimmen) Aufbau einer Gegenwelt orientiert war, ist gescheitert. Statt in der Suche nach dem verlorenen Sozialismus zu verharren, stellt sich uns die Aufgabe, Formen zu finden, durch die eine kapitalistische Welt — eine andere haben wir nicht — demokratisiert, feminisiert, ökologisch und sozial reguliert wird, und die staatliche Macht eingeschränkt wird, damit die einzelnen Menschen in Freiheit leben können. Greifen wir die emanzipativen Chancen im realen politischen System auf anstatt uns an abgehobenen Postulaten zu orientieren. In der sozialen und ökologischen Einbindung kapitalistischer Logik und der fortgesetzten Widerständigkeit gegen die Machtapparate, die die zentralen Probleme der Gesellschaft immer von neuem aus dem Blick verlieren, liegt die Chance zur schrittweisen Verwirklichung einer solidarisch verfassten Gesellschaft.

Wir gehen in die kommenden Auseinandersetzungen nicht mit leeren Händen. Die heutige politische Kultur, die öffentliche Diskussionsbereitschaft und Dissensfähigkeit ist nicht denkbar ohne die nachwirkenden Ideen der 60er Jahre, ohne die gewonnenen ritären Lebenstile und der politischen Kultur.

Der Weg ist das Ziel.

(leicht gekürzt)