: Macht des Wortes, Politik
■ Auszug aus der Rede Vaclav Havels auf der „Helsinki-Bürgerversammlung“ in Prag am 19. Oktober DOKUMENTATION
In den Jahren, in denen wir das bildeten, was als Dissidenz oder als Opposition bezeichnet wurde, in denen wir die sogenannten „Kämpfer für die Menschenrechte“ waren, in denen unsere Freundschaft, unsere Kontakte mit verschiedenen unabhängigen und demokratischen Organisationen begann, in diesen Jahren standen wir am Rande der Gesellschaft. Wir befanden uns, wenn man das so sagen kann, auf ihrer niedrigsten Stufe. Und mit einem Mal nehmen wir seltsamerweise die höchsten staatlichen Funktionen ein.
In den genannten Jahren hatte der Kampf, den wir führten, nichts mit dem Wort „Politik“ gemeinsam. Wir verwendeten den Begriff der „nichtpolitischen Politik“, der „Antipolitik“. Es ging um Prinzipien und Werte und nicht um Macht und Funktionen. Hervorgehoben wurden die Bedeutung des Geistes und der Wahrheit. Wir haben gesagt, daß vor allem unter den Bedingungen des totalitären Systems die gesellschaftliche Stärke nicht nach der Zahl der Wähler, der Anhänger oder der Größe der Organisation gemessen wird. Stattdessen beruht sie auf der Macht des Wortes, des wahren Wortes, in dem Mut sich in bestimmten Situationen ohne Rücksicht auf die Folgen zu verhalten. Und so passierte etwas Besonderes: der Geist siegte über die nackte Gewalt, die Wahrheit siegte über die Lüge und brauchte hierfür weder einen organisierten Machtapparat noch Waffen. [...]
Wenn Dissidenten zu Politikern werden müssen
Viele fragen uns nun, ob die ehemaligen Dissidenten in ihren heutigen höchsten staatlichen Funktionen nicht die gleichen Verhaltensweisen, die sie früher verurteilten, übernehmen. Zweifel werden laut, ob heute noch die gleichen Grundsätze über die unpolitische Politik gelten wie früher, ob wir inzwischen nicht unsere bisherigen Ideale und Gedanken aufgegeben haben.
Tatsächlich werden wir täglich damit konfrontiert, daß wir zwar bei der Zerstörung des alten Systems recht geschickt vorgegangen sind — das haben wir in all den langen Jahren ganz gut gelernt —, daß wir aber nicht in ausreichendem Maße auf den Aufbau eines neuen, wirklich demokratischen Systems vorbereitet waren. Als wir uns mit einem Mal in der Welt der hohen Politik wiederfanden, haben wir festgestellt, daß es notwendig ist, auf gewisse Interessen, Ambitionen und politische Kräfte, die bestimmte Gruppen vertreten, Rücksicht zu nehmen. In gewisser Weise müssen wir politisch manövrieren und uns diplomatisch verhalten. Nach meinen ersten Erfahrungen kann die Tatsache, daß wir uns nun in einem völlig anderen Milieu bewegen, jedoch nichts am Wesen unserer Bemühungen und Ideale verändern, verändern kann sie nur die Form ihrer Verwirklichung. [...]
Unser Ziel ist ein Europa freier Nationen. Dies alles versuchen wir täglich in die Praxis sowohl unserer Außen- als auch unserer Innenpolitik umzusetzen. Natürlich ist auch Ihre Versammlung als Treffen von Basisinitiativen und Ihr Ziel einer civil society etwas Neues. Sie zeugt davon, daß Menschen in den verschiedensten Ecken Europas sich darüber Gedanken machen, daß es notwendig ist, ein Europa aufzubauen, das nicht in Blöcke geteilt ist, sondern sich integriert. Ein Europa als ein Teil der Welt, der den anderen Teilen nicht Krieg, sondern Frieden bringt.
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