Im Exil der Vorstädte

■ Mischka Popp und Thomas Bergmanns „Die Potemkinsche Stadt“, um 23.00 Uhr, ARD

Die Stadtzentren werden entkernt wie überreifes Obst. Natürlich gewachsene Urbanität verschwindet zugunsten einer schrebergartenhaften Stadtsanierung. Die antiseptische Welt der Finanz- und Dienstleistungsbetriebe verdrängt die nicht zahlungsfähigen Menschenmassen in hastig errichtete Zwischenlager: Die berüchtigte Trabantenstadt der Sechziger und Siebziger, so der Tenor von Popp und Bergmanns filmischem Versuch über spätindustrielle Urbanität, ist keine Sünde der Vergangenheit.

Bilder und Episoden aus der 1986 wieder abgerissenen „Metastadt“ Wulfen (Ruhrgebiet), dem Bijlmermeer bei Amsterdamm (dem letzten Corbusier-Projekt, heute größtes schwarzes Ghetto auf dem Kontinent), aus Genvillers vor Paris, aus Vallecas im Süden von Madrid (auch „Stadt der Diebe“ genannt) und aus dem Märkischen Viertel in Berlin verschmelzen zur Vision einer globalen Vorstadt, einer zentrumslosen Kulisse aus geometrisch komprimierten Wohnmaschinen, deren Geisterhaftigkeit zur Jericho-Posaune von Albert Mangelsdorf den Titel Die Potemkinsche Stadt nahelegt.

Die Dokumentation ist ein Versuch, mit ästhetischen Mitteln dem komplexen Phänomen der Massenvernichtung von Sozialität und Urbanität Konturen zu verleihen und Zusammenhänge aufzuzeigen, in denen das Ausmaß der staatenübergreifenden Ghettoisierung überhaupt erst sichtbar wird. Überflüssig zu erwähnen, daß mit literarischen Zitaten (Beckett, Kafka, Musil, Zola) und assoziativen Montagen zunächst nur Denkanstöße statt komplette akademische Diskurse vermittelt werden.

Zu düsteren Worten aus Lovecrafts Berge des Wahnsinns tastet sich die Kamera durch die (von der Sintflut eines Nieselregens aufgeweichte) Ruinenstadt Wulfen kurz vor dem Abriß. Eine Frau rekonstruiert akribisch den Grundriß ihrer Einrichtung. Fototapeten wie postdekorative Höhlenmalerei, Neutronenbombenrealismus.

In Paris kristallisieren sich regionale Gospelkirchen gegen die Öde der Gefängnishofarchitektur. Die tranceartige Unwirklichkeit zwischen den Betonskeletten wird von tai-chi-artigen Tänzern eingefangen.

In Madrid sind wir mit halbwüchsigen Autoknackern unterwegs, und mitten im Märkischen Viertel wohnt eine alte Frau mit ihrem Sohn in einem Bahnwärterhäuschen; die einkesselnde Fassade der Hochhäuser glotzt auf sie herab wie die tausend Augen des Dr. Mabuse.

Die Aufmerksamkeit gilt nicht primär der Architektur, sondern den Menschen, deren Art des Er- und Überlebens in diesen maroden, legebatterieartigen Deproschachteln. Trotzdem wird ersichtlich, daß zwischen der ebenso wirtschaftlichen wie inhumanen Bauweise der Trabantenstädte (mit geringem Materialaufwand möglichst viel Wohnraum schaffen) und dem zugrundeliegenden Konzept der Bauhaus-Architektur (Walter Gropius, Mies van der Rohe) ein intimer Zusammenhang besteht, der bislang ungenügend aufgearbeitet ist. Was der Film natürlich nicht vorbuchstabiert. Er setzt Zeichen. Mit den Mitteln der Videoinstallation erfüllt er etwa den Wunsch eines ehemaligen Wulfeners, nach dem der Architekt (der heute Biohäuser baut) doch selbst einmal in seinem Asbestparadies wohnen solle: Auf der Schubkarre wird ein Fernseher durch die Ruinen gekarrt, auf dem der Architekt zu sehen ist, wie er 1975 seine salbungsvolle Eröffnungsrede hält.

Bei den etablierten Dokumentarfilmern ist der international preisgekrönte Film, der vor allem beim sowjetischen Publikum Verständnis fand, durchgefallen: „Manche Dok- Filmer“, so deshalb Thomas Bergmann, „machen Filme, als würden sie Film hassen.“ Manfred Riepe