Gegen Gesundheit

Ein Gespräch mit Ivan Illich  ■ Von Eva Schindele

Vor 15 Jahren sorgte der Zivilisationskritiker Ivan Illich mit seinem Buch „Die Nemesis der Medizin“ für Aufregung. Darin wetterte er gegen eine Medizin, die den Menschen entmündigt und plädierte für Selbsthilfe und Eigenverantwortung. 1990 sieht Illich weniger eine Gefährdung durch den Medizinbetrieb selbst, als durch unsere eigene Haltung zur Gesundheit und vor allem zu unserem Körper. In einem Vortrag auf dem Kongreß „Gesundheit in eigener Verantwortung“, der kürzlich in Hannover stattfand, wetterte Illich gegen die Vorstellung des Heilseins in einer Welt der Zerstörung. Gesundheit reduziert sich für ihn auf eine Anpassung an den Fraß, an die vorgegebenen Lebens- und Arbeitsrhythmen und an die innere Zerstörung durch ein Körperbild, das geprägt ist vom „post-professional high-tech lifestyle“.

Frage: „Gesundheit in eigener Verantwortung“ heißt dieser Kongreß. Ist das nicht in Ihrem Sinne?

Ivan Illich: Ich habe mir sehr den Kopf gekratzt, denn ich hatte nicht vor, hierher zu kommen. [...] Ich habe die Kongreßleitung wissen lassen, daß Gesundheit in eigener Verantwortung bei mir nur eine einzige Reaktion auslöst — ein ganz herzliches: Nein danke!

Warum?

Gesundheit und Verantwortung sind Begriffe aus dem 18. Jahrhundert. Gesundheit im Sinne von Volksgesundheit, im Sinne von etwas Erstrebenswertem, das ist von Historikern nachgewiesen, entsteht um 1760, 1770 gleichzeitig mit dem Begriff des Glücks, jenem Glück, das den Amerikanern verbrieft ist in der Unabhängigkeitserklärung. Das ist eine Materialisation des Rechtes auf Glück, um das sich dann ganze Professionen bildeten, deren Aufgabe die Volksbeglückung oder Volksgesundheit ist. Aber auch wenn ich mich über diesen aus der Aufklärung stammenden Begriff lustig mache, hatte der noch einen Sinn zur Zeit, als ich geboren wurde — also vor 64 Jahren. Ich habe ihm auch noch einen Sinn geben können, als ich das Buch Die Nemesis der Medizin schrieb. Das beginnt mit dem Satz: „Die größte Bedrohung der öffentlichen Gesundheit ist die medizinische Profession.“ Wenn mir das heute jemand sagen würde, dann würde ich sagen: Na, und wenn schon!

Was hat sich verändert?

Wir sind doch überschüttet worden mit Informationen darüber: Ozonloch, Treibhauseffekt, Strahlung, Chemie, Überfütterung mit Antibiotika, Zerstörung dessen, was man da jetzt Immunsystem nennt, genetische Verarmung, Verstädterung. Heute können wir uns nur noch ums Überleben bemühen. Das ist doch kein Gesundheitsbegriff. Das ist Anpassung an den Lärm, Anpassung an den Fraß, Anpassung an die Rhythmen, die wir durchleben, und vor allem: Anpassung an die innere Zerstörung.

Wie sieht diese innere Zerstörung aus?

Vor ein paar Tagen saß ich in Philadelphia beim Abendessen im kleinen Kreis. Dabei ist ein französisch- schweizerischer Kollege, Robert. Er spricht mit Tracy, will ihr einen zweiten Krug guten Apfelcidre einschütten, und sie sagt: „Nein, mein System kann nicht soviel Zucker auf einmal vertragen. Es könnte aus seinem Gleichgewicht geworfen werden.“ Die Dame ist mit ihren 27 Jahren in eine Volksschule gegangen, wo sie bereits in der 2. Klasse mit Abbildungen von Muskel- und Nervenmenschen, dem endokrinen System usw. konfrontiert worden ist.Die hat sie auf sich nach innen projeziert. Sie denkt sich nicht nur, sie erlebt sich selbst als an- und abdrehbar, als regulierbar, als etwas total Unwirkliches.

Das heißt auch die ganzen Begrifflichkeiten der Medizin...

...sind entkörpert...

...und entfremden uns von uns selbst...

...weil wir sie von der Medizin übernehmen. Und ich sehe in dem Slogan „Gesundheit in deiner eigenen Verantwortung“ eine ganz gemeine erzieherische Intention, die uns nahelegt: Schau du dich selbst an, und erlebe dich in der systemtheoretischen Perpektive, die wir dir predigen. Wir erklären dir, daß du ein provisorisch überlebendes Immunsystemchen bist im Schoß des Weltsystems der Göttin Gaia. Sie ist das Leben, und du bist ein Leben! Und Leben definieren wir — wie eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt — als jenes Phänomen, das die Möglichkeiten für sein eigenes Weiterbestehen optimiert. Darüber enthusiasmieren sich Grüne, die auf der Straße wandern, und Systemanalytiker, die von Weltkontrolle faseln, und Herren, die ich auf diesem Kongreß gehört habe, schwätzen denselben Unsinn, den ich vor ein paar Tagen in Washington gesehen habe, wo Tausende von Schulkindern auf die Straße gegangen sind und gebrüllt haben: „Wir sind gegen den Treibhauseffekt, wir wollen kein Ozonloch!“

Natürlich, wer will schon ein Ozonloch?

Aber wir haben's nun einmal! Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als zu sagen: Ich verzichte auf Gesundheit. Das ist furchtbar. Ich verzichte darauf, mir einen aufklärerischen Begriff heute noch als möglich zu erträumen. Ich weiß, daß mich kein Weg zurück führt in das indische Yoga oder in die Vorstellung aus China, wo Himmel und Erde einander entsprechen und ich in ihnen aufgehe. Ich anerkenne meine Ohnmacht, erlebe sie tief. Das kann man nicht alleine tun — dafür ist Freundschaft, die alte „philia“, Grundlage — ohne die geht es nicht. Aber Verzicht ist möglich. Verzicht der bewußt, kritisch, diszipliniert eingeübt wird und für den es einmal einen Namen gab: Askese.

Das klingt sehr mönchisch?

Ja, ich hätte gern ein anderes Wort. Man denkt nur an ein „Danke nein“ zu Wein, Weib, Gesang und Wohlgerüchen. Das hat aber mit dem, was ich als Askese bezeichne, nichts zu tun. Es ist viel herausfordernder. Es ist ein „Danke nein“ zu den Selbstverständlichkeiten, auf denen unsere Gesellschaft aufgebaut ist.

Zum Beispiel?

Jede Epoche ist wie eine Himmelskugel mit ihren begrifflichen Fixsternen, unter deren Richtungsgebung die Vorstellungen, aber auch die sinnlichen Erlebnisse der Epoche zustande kommen. Diese Grundbegriffe der Weltsicht nenne ich Selbstverständlichkeiten, ich sollte lieber sagen Annahmen, die so selbstverständlich klingen, daß niemand sie untersucht. Ich und meine Freunde haben es uns zur Aufgabe gemacht systematisch, vorsichtig und wissenschaftlich die Geschichte der Selbstverständlichkeiten der Moderne zu schreiben, und zu denen gehört eben auch die Gesundheit.

Sie sagten einmal, Gesundheit ist für Sie ein Plastikbegriff.

Dieses Wort habe ich von meinem Lehrer und Kollegen, dem Linguisten Prof. Uwe Pörksen aus Freiburg übernommen. Er sagt, es gibt eine neue Art von Wörtern, die wir unentwegt verwenden. Die bezeichnen nichts Genaues, tragen aber große Bedeutsamkeit, Wichtigtuerei mit sich. Sie sind wie Steine, die man in einen See wirft und von denen man nicht sehen kann, wo sie ankommen. Aber trotzdem enstehen Riesenwellen. Diese Wörter nennt er Plastikwörter oder Amöbenwörter. Ich glaube, daß das Gespräch in Amöbenwörtern der Grund ist, warum wir so schwer an die Sache herankommen, zum Beispiel an mein Nein zur Gesundheit, an meine Forderung auf Verzicht. Das kann entweder als Unsinn bezeichnet werden — und notwendigerweise wird es von den meisten so bezeichnet — oder es kann als eine Eitelkeit gesehen werden: Wo stehst du denn, wenn du so einen Verzicht aussprichst? Mein Vergleichspunkt ist die Geschichte. Zum Beispiel im europäischen 19. Jahrhundert hieß „Gesundheit“ im wesentlichen: weniger Läuse, Flöhe und Mäuse, größere Fenster, Wundverbände, Zugang zum Arzt. Aspirin gab es noch nicht. Gesundheit war kein wichtiger Begriff. In der Praxis eines damaligen Arztes — die Historikerin Barbara Duden hat seine Gesprächsnotizen ausgewertet — taucht das Wort Gesundheit kaum auf.

Worüber haben dann die damaligen Menschen geklagt?

Sie waren müde. Es ist ihnen etwas zu Kopf gestiegen. Sie haben sich wehgetan. Das Herz ist ihnen gebrochen. [...] Ich gehe so weit zu sagen, „Gesundheit in eigener Verantwortung“ heute zu propagieren, ist politisch eine Frechheit. Denn es bedeutet die Leute aufzufordern nach etwas zu suchen, von dem die Leute wissen sollten, daß es nicht möglich ist. Es ist mir auch widerlich, wenn Experten, die 30, 40 Jahre zurücksehen können und wissen, daß die Weltgesundheit im Lauf der letzten 20 Jahre wahnsinnig abgesunken ist, sich jetzt die Hände rein waschen und die Opfer prügeln. Mir ist es arg, daß sich Gesundheit heute auf mich selbst als ein System bezieht, als „ein Leben“. Es ist eine irrsinnige Propaganda mit dem Begriff, daß jeder von uns „ein Leben“ ist, getrieben worden. Der Begriff „ein Leben“ ist ein christlich-westlicher Begriff. Es ist die Antwort Jesu an Martha: Ja, ich bin das Leben. Zweitausend Jahre haben Christen geglaubt, mit ihm eins zu werden heißt in das Leben einzugehen. Das war das einzige Leben, das man kannte. Die Erfinder der Biologie — das Wort stammt aus dem Jahr 1801 oder 1802 — wußten ganz genau, daß sie etwas Neues geschaffen haben mit ihrem diesseitigen Leben, für das es jetzt eine Wissenschaft gibt, die Biologie. Dieses Leben wird immer mehr dargestellt als ein System, ein zartes, behutsam zu behandelndes Immunsystem, das richtig im Gleichgewicht gehalten werden soll. Sich Gesundheit als „Lebensqualität“ vorzustellen, ist eine weitere totale Entmenschlichung, eine radikale Abstraktheit, und die zu propagieren scheint mir unsinnig, weil unsinnlich — aber letztlich wegen des christlichen Zusammenhangs dieses Begriffs sogar lästerlich.

Und dann noch die „eigene Verantwortung“ in einer Welt, in der man nicht einmal einen Wahlzettel vernünftig abgeben kann! In einer Welt, in der immer mehr das, was man früher „demokratische Freiheit“ genannt hat, zur symbolischen Selbsteinordnung wird. In einer Welt, in der Sie gefragt werden: welche Art der Geburt wollen sie, Kaiserschnitt, vaginal oder vielleicht sogar mit Leihmutter? In einer Welt, in der ihnen scheinbar die Wahl gegeben wird, aber in Wirklichkeit Sie nur unterschreiben, daß mit ihnen getrieben wird, was irgendeine Profession sich entschieden hat zu tun. — In so einer Welt Verantwortung hochzuspielen, statt zu sagen: Menschen, Freunde, wir sind ohnmächtig geworden, wir müssen die Ohnmacht auf uns nehmen. Von Gesundheit in eigener Verantwortung öffentlich und normativ zu sprechen, ist zutiefst kränkend, beleidigend.

Sie haben ein deprimierendes Szenario entworfen. Sehen Sie auch eine Hoffnung darin?

Ja. Ich kann sagen, sie ist nicht nur sehr stark, sie erfüllt sich auch oft. Dieses Szenario, von dem ich gesprochen habe, in dem wir, wenn wir Sinn suchen und bewahren, sehr einsam sind, ist auch eine Gelegenheit für eine Intensität der Freundschaft, die in einer Welt ererbter Bindung, gewohnter Kultur, bürgerlichen Anstands, des Reichtums oder des Abgesichertseins kaum denkbar war. Meine Hoffnung geht dahin. Sonst habe ich keine.

Ivan Illich: Die Nemesis der Medizin. Von den Grenzen des Gesundheitswesens. Rowohlt, 1977, 324 Seiten, 12,80DM

Barbara Duden: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patienten um 1730. Klett- Cotta, 1987, 269 Seiten, 44,—DM