Haute Couture als angewandter Sozialismus

40 Jahre Pierre Cardin und dezentrierter Reißverschluß  ■ Von Thomas Langhoff

Ich will einen solchen Eindruck hinterlassen“, sagt der Kaiser unter den Schneidern, „daß in hundert Jahren jedermann weiß, welcher Art unsere Zivilisation war. Ich möchte, daß die Leute sich ein bestimmtes Kleid anschauen und sagen: Das war 1960. Das war Pierre Cardin.“

In den Sammeltruhen künftiger Archäologen werden zu finden sein (eine vorläufige Liste): violette Hosenanzüge mit übergezogener Slip- Attrappe aus Vinyl, schenkelumschließende Lederstiefel, knielange Kleider mit dreidimensionalem Eierkartonrelief, bizepsverhüllende Vinylhandschuhe, jerseyumspannte Hulshop-Reifen und — Kontoauszüge, Kontoauszüge, Kontoauszüge.

Was auch immer die Altertumsforscher der nächsten Dekaden in den Kleiderkommoden der Nachkriegsbourgeoisie entdecken werden, präsentiert sich zur Zeit säuberlich aufgereiht in der „Galerie des 20. Jahrhunderts“ des Londoner Victoria&Albert-Museums. Mit Pierre Cardin — Past, Present, Future widmet sich das V&A nach der Plastics-Ausstellung Anfang dieses Jahres einer weiteren Branche des ansonsten wenig galerieverdächtigen Konsumkulturbetriebes.

Der heute 68jährige Cardin zählt — ästhetisch wie ökonomisch — zu den bedeutendsten Schneidergesellen dieses Jahrhunderts. 180.000 Beschäftigte in über 100 Ländern sorgen dafür, daß das Cardin-Imperium jährlich über 1 Milliarde Dollar umsetzt.

Cardin kommt 1945 nach Paris, studiert Architektur, gestaltet Masken und Kostüme für Jean Cocteaus La Belle et la Bête, landet 1947 bei Christian Dior und präsentiert — nachdem er 1950 ein eigenes Modehaus eröffnet hat — 1953 seine erste Haute-Couture-Kollektion. Schon ein Jahr später erfreut er die Laufsteg-Juroren mit seinem trägerlosen und aufgeplusterten „Bubble Dress“. Es soll aber noch weitere fünf Jahre dauern, bis er rechtzeitig zur Jahrzehntwende seine erste scharfe Attacke gegen die klassenbewußte Pariser Modearistokratie lanciert: 1959 bringt Cardin eine Konfektionskollektion auf den Markt und verstößt so gegen das hehre Haute- Couture-Gesetz, daß jedes Kleid, jeder Mantel und jeder Rock auf jeden einzelnen Körper maßgeschneidert werden muß. Ob dieser Sozialisierung bourgeoiser Eleganz erinnert sich die Chambre Syndicale de la Couture an McCarthy und verbannt den offensichtlich moskaugesteuerten Schneider wegen unfranzösischer Umtriebe aus ihren Reihen. Als Cardins Kollegen dann aber feststellen, wieviel Geld mit Konfektionsware zu verdienen ist, folgen auch sie seinem Beispiel.

Ästhetische Innovation auf der einen Seite, Vermarktung und Massenproduktion auf der anderen — Ende der Fünfziger ist die automatische Steuerung der Rocket Cardin programmiert, die Rampe für den Start in die Sechziger ist geputzt und die Turbinen sind geschmiert. Der ungestüme Hedonismus und die grenzenlose Fortschrittsgläubigkeit des Ex- und Pop-Jahrzehnts bieten Cardin das ideale Experimentierfeld für avantgardistische Spielereien — nie war die Moderne moderner, nie ergossen sich die seligmachenden Konsumjuwelen unbändiger über die mittelständischen Fluxusgesellschaftler, nie drehte sich die Welt schneller als in jenen Jahren zwischen Richard Hamilton (der schon 1956 mit seiner Robotercollage This is tomorrow das Programmheft für das MORE!-Zeitalter ausgibt) und dem 69er Tune-in-drop-out-Konzert der Stones in Alamont, das der Schwarze Meredith Hunter mit einem Messer im Rücken verläßt.

Nachdem die Sowjetunion 1961 Juri Gagarin in den Orbit schickt, bestimmt der Cosmo-Look die Laufstege. Die Damen, die Köpfe in trichterförmigen Helmen, lugen durch eingefaßte Sehschlitze hinaus und die Herren sehen in ihren uniformähnlichen Hosenanzügen mit dezentriertem Reißverschluß wie Monteure einer außerirdischen Sputnikschlosserei aus. Der Mond wird 1969 eingemeindet und die Architekten träumen von aufblasbaren PVC-Wohnzellen und schwebenden „Instant Cities“ mit mobilen, kochenden, müllschluckenden, spülenden, staubsaugenden und Cocktail-einschenkenden Haushaltsrobotern.

Fasziniert vom technologischen Fortschritt, transplantiert Cardin neue Materialien in das Haute-Couture-Outfit: 1964 führt er Vinyl ein, 1968 läßt er sich seine eigenes „Cardine“-Material, das dreidimensionale Reliefs ermöglicht, entwickeln und 1969 behängt er seine Modelle mit floureszierenden Plexiglaskacheln. Die Fotografen lichten des Meisters Werk auf Baustellen oder vor nachgestellten Mondlandschaften ab und die Models schauen nicht mehr mit dem in den fünfziger Jahren üblichen demütig-unschuldigen Obwohl-wir-drei-Hausmädchen-beschäftigen-kann-ich-auch-selbst-

kochen-Augenaufschlag in die Linse. Look straight into my eyes and then let's go go scheinen die Sixtie- Starlets dem Beschauer zuraunen zu wollen.

Oswalt Kolle und die Lennon/Ono-Bed-Ins lassen auch die traditionellerweise monogame Eleganz des Pariser Modebürgertums nicht ungeschoren: Die Miniröcke erreichen die Venus und baudrillardsche Simulationsschalen aus Plastik umhüllen die Brüste. Die Balance zwischen dem Formalismus geometrischer Grundformen und der Verspieltheit des dekorativen Ornaments — das Fundament der Cardin-Ästhetik — bleibt aber trotz dieser Extravaganzen stets gewahrt. Tropfen- und pfeilförmige Durchblicke durchbrechen die Strenge des puristisch geradlinigen „Grundrisses“ (man kann sich hier tatsächlich architektonischer Begriffe bedienen). „Eleganz“, so sagt Sartre, „ist die Fähigkeit, die größtmögliche Menge des Seins in Erscheinen umzuformen“. Die Identität von Sein und Schein, die Vergötzung der Technik, die subversive Leichtigkeit des englischen Pop und die androgyne Schwülstigkeit des amerikanischen Camp — die vier Charakterlinien des Revolutionsjahrzehnts schneiden sich im verstofflichten Mikrokosmos des Haute-Couture-Exilianten Pierre Cardin.

Als die Sixties dann LSD-aufgeladen ihrem Ende entgegenswingen und Brian Jones zum ersten Mal in seinem Leben seine Haare nach dem Baden wegen Ertrinkens nicht fönt, geht alles steil bergab. Die Haight- Ashbury-Hippies pilgern in wallenden Gewändern nach Kathmandu und auch Cardins Ultramodernität verliert sich in den Falten drapierter Stoffkaskaden. 1975 ist dann der absolute Tiefpunkt erreicht: Opel stellt die Manta-A-Reihe ein und die Welt hört auf, sich zu drehen. Die Rocket Cardin trudelt ziellos im Modeall umher und fragile Models wandeln in knöchellangen Umhängen durch englische Frühlingsgärten. Die ästhetische Unverbindlichkeit und formale Inkonsequenz des 70er-Designs weiß Cardin in anderen Geschäftszweigen auszugleichen: 1970 eröffnet er den „Espace Pierre Cardin“, ein Freizeitzentrum für den gehobenen Geschmack mit Theater, Restaurant, Kino und Galerie. Im selben Jahr beginnt er auch, verschiedene Konsumartikel außerhalb der Modebranche unter seinem Namen zu vertreiben. Heutzutage laufen 850 Produkte, vom Kugelschreiber bis hin zur Bratpfanne, unter der „PC“-Lizenz. Nachdem er 1977 seine erste Möbelkollektion präsentierte, besinnt Cardin sich Anfang der Achtziger wieder auf das Schneiderhandwerk. Halblange Mäntel mit flossenähnlichen Rückeneinsätzen, die beim Gehen leicht vor sich hin wogen, nehmen die zeitgenössischen Muster des Computerdesigns auf und rücken den Altmeister wieder ins Rampenlicht. Die leicht orientalisch angehauchte Atmosphäre der 75er Fotosessions weicht nun den härteren Konturen der Pariser „Les Halles“. Die Zukunft rückt wieder näher und Cardin schaltet in den Overdrive: Die Ostblockdesigner können sich ihre erste Lektion in Sachen Kapitalismus im 1980 eröffneten PC- Shop in Sofia abholen, 1981 folgt Peking und 1983 zeigt Cardin seine Kollektion in Moskau. Das Modejahr 1990 schließlich sieht die Rückkehr arithmetischer Exaktheit und pristischer Geometrie.

40 Jahre Pierre Cardin — das sind 40 Jahre konsequente Einführung einer auf dem Zukunftsoptimismus der Moderne fundierenden Idee. Der Sozialhygieniker der zwanziger Jahre allerdings ist aus der Haute-Couture- Variante der Moderne entschwunden — der Kapitalist Cardin hat dessen Rolle übernommen.

Während der Name Pierre Cardin synonym für Zeitverbundenheit und Konsequenz steht, so lauten die entsprechenden Begriffe für die Ausstellungsmacher Rückständigkeit und Naivität. Das sanft-blaue Licht und die unbarmherzig vor sich hin schwingende Sphärenmusik tauchen das beliebige Arrangement der Puppen in eine prätentiös-futuristische Atmosphäre. Aus dem Inneren einer Stoffkuppel werden Dias projiziert — ein paar Models, ein paar Disketten und ein paar Beatles müssen als ideologische Folie für 40 Jahre sozialisierte Haute Couture herhalten. Dieses Ausstellungsdesign hat in etwa denselben innovativen Impetus wie die Inbetriebnahme einer Lichtorgel in der Lüneburger Heide.

Die vor den Rampen und Schaufenstern wandelnden Hip-Hop-Raver bewältigen den Parcour sinnvollerweise mit Walkman und schleichen dann nach mehreren mit verständnislosen Blicken quittierten „Wo-geht's-denn-hier-zur-Turnschuh-Abteilung?“-Fragen sichtlich unbeeindruckt von dannen. Im Gegensatz zu den verklemmt-ernsthaften Ausstellungsdesignern scheinen sich zumindest diese Spike-Lee- Krieger an Oscar Wilde zu erinnern: „In matters of great importance, the vital element is not sincerity, but style.“

Victoria&Albert-Museum, London; Galerie des 20.Jahrhunderts: „Pierre Cardin — Past, Present, Future“; bis 6.1.1991