Camorra—der neue Qualitätsbegriff

 ■ Aus Neapel Werner Raith

„Ich hätte da ein gutes Geschäft für Sie“, sagt der junge Mann in den verschlissenen Jeans und mit zwei unübersehbaren Schlägerschmissen an der Stirn, „einen Videorekorder, Philips, nagelneu und zu einem Viertel der Preises. Wir sind von der Camorra, darum haben wir die Dinger billiger. Viel billiger.“ Er grinst breit und vielsagend.

Man möchte sich in den Arm kneifen, um sicher zu sein, nicht zu träumen. An der Autobahnraststätte Caserta kurz vor Neapel treibt sich mehr als ein halbes Dutzend solcher Gestalten herum. Mit selbstbewußter Geste winken sie ausländische und norditalienische Autos aus dem Strom zum Tanken rollender Vehikel heraus. Kaum zum Stehen gekommen, beginnt die Bearbeitung, in Deutsch, Italienisch, Englisch oder Französisch, radebrechend zwar, aber unabweisbar. Die zunächst naheliegende Vermutung, die Männer hätten nicht „Camorristi“ (Camorristen) gesagt, sondern „Camionisti“ (Fernfahrer), räumt der Geselle auf Nachfrage aus: „Nix da camionista. Hab' gar kein Führerschein. Wenn fahren, dann schwarz, keiner mich in Neapel aufhalten.“

Natürlich weckt das, neben leisem Unbehagen, auch die Neugierde des Journalisten. Ob er denn keine Angst habe, unter den überall prangenden Hinweisschildern, „Mißtrauen Sie nichtzugelassenen Händlern, die Waren feilbieten“, seine Räuberware zu offerieren? Ob da nicht mal die Polizei... „Hat's gegeben“, sagt er, „aber sehr, sehr selten.“ Er lächelt erneut vielsagend.

Da ist offenbar etwas in Bewegung gekommen. Früher haben die Händler sich eher mit dem touch des Heimlichen und Verschwörerischen genähert: ein scheuer Blick nach allen Seiten, dann aus der Hosentasche flink ein Päckchen Papier herausgeholt und daraus eine angeblich echte Rolex oder ein Goldarmband herauslugen lassen. Preis: hunderttausend Lire oder 150 Liter Benzingutscheine. „Robba di contrabanda“ hieß damals das Zauberwort, Schmuggelgut. Zu Tausenden entdeckten die Käufer erst später, daß die Uhr wertlos, das Gold mit etwas Seife zu entfernen war. „Und das war fürs Geschäft, als Ganzes gesehen und langfristig, nicht gut“, erläutert ein älterer Kollege des Jung-Camorristen, offenbar eine Art Standort-Capo: „Die Leute müssen wissen, daß die Ware bei uns Qualität hat. Wir geben sogar Garantie“, sagt er stolz. „Viele schicken jetzt ihre Freunde zu uns. Übrigens nehmen wir auch Bestellungen an.“ Die Umsätze sind nach seinen Worten um das Dreifache gestiegen, „und vor allem können wir jetzt statt der paar Zehntausender für eine Uhr gleich auf eine halbe Million für Videogeräte und Computer gehen.“

Daß alles so gut klappt, führt er wie ein versierter Marketingexperte darauf zurück, daß sich die erlebnishungrigen Fremden aus dem Norden „unheimlich toll fühlen, wenn sie zu Hause damit angeben können, einen leibhaftigen Gangster zu kennen — und dabei noch ein gutes Geschäft gemacht zu haben.“

Camorra als Qualitätsbegriff; vielleicht ist es bis dahin wirklich nicht mehr weit. Das gilt nicht nur für das Beutegut auf dem Schwarzmarkt. Wer die Presseberichterstattung der letzten Jahre kontinuierlich verfolgt hat, bemerkt auch dort eine Veränderung: Noch zu Beginn der achtziger Jahre wurden camorristische oder mafiose Verbrechen mit Worten der Abscheu geschildert, die Bandenkriege als „erbarmungslos“, „scheußlich“, „barbarisch“ bezeichnet. Derartige Etiketten weichen neuerdings Prädikaten wie „mit camorristischer Präzision“ ('Corriere della sera‘), wenn wieder ein Gegner im Kugelhagel starb, „camorristische Konsequenz“ ('Il Mattino'), wenn Killer einen bei einem Schußwechsel Davongekommenen zwei Wochen danach im Krankenhaus aufspüren und abservieren. Und wenn sich herausstellt, daß wieder einmal alle möglichen öffentlichen Aufträge in Gangsterhand gelandet waren, so reden die Postillen nicht mehr wie ehedem von „Skandal“, sondern stellen eher sachlich fest: „Wieder einmal hat sich gezeigt, daß die Camorra keine Konkurrenten auf ihrem Terrain duldet“ (so 'la Repubblica‘ nach einer Analyse von Aufträgen für die WM-Bauten). Als einige nicht-camorristische Firmen in Neapel den Zuschlag für die kommunale Müllabfuhr erhielten und es daraufhin Zoff gab, hörte sich der entsprechende Report im staatlichen Rundfunk RAI wie ein Straßenzustandsbericht an: „Vergangene Nacht haben einhundert Polizisten die Müllbeseitigung Neapels überwacht. Die Camorra hatte angekündigt, nicht von ihr lizensierte Firmen mit Gewalt zu vertreiben.“ Punkt.

Da mag denn auch die Regierung nicht abseits stehen. Noch vor zwei Jahren hatte das Innenministerium festgestellt: „Wir sind mit der schrecklichen Tatsache konfrontiert, daß der Staat die Kontrolle über einen Teil des Südens verloren hat und Banden der Camorra und der Mafia die Herrschaft ausüben.“ Voriges Jahr befand dieselbe Stelle: „Mafia und Camorra dehnen ihren blutigen Kampf im Süden weiter aus.“ Dieses Jahr hieß es nur noch: „Mafia und Camorra haben den Kampf mit dem Staat um die absolute Herrschaft im Süden begonnen.“

Da blieb dem Satiremagazin 'Cuore‘ nur noch der Kommentar: „Auf daß der Bessere gewinne.“