„Vierzig Jahre unerklärter Atomkrieg“

Die Völker der Sowjetrepublik Kasachstan feiern Jubiläum: Seit einem Jahr hat es aufgrund des Widerstands der Bewohner keine Atomtests auf dem bisherigen Atomwaffenversuchsgelände mehr gegeben/ Fast in jeder Familie Krebskranke  ■ Aus Alma Ata Barbara Kerneck

Was die Bewohner der Bezirke Egendybulask, Maisk und Lebjaschinsk in der Sowjetrepublik Kasachstan in den vergangenen vierzig Jahren erlitten, bezeichnen sie selbst als ein „vielfaches Tschernobyl“. Insgesamt wurden in diesem Zeitraum hier atomare Sprengkörper mit der Strahlungskraft von zwanzigtausend Hiroshima-Bomben gezündet. Fast in jeder Familie gibt es Krebs- oder Leukämiekranke, jedes dritte Kind wird tot oder verkrüppelt geboren.

In der letzten Woche haben die Völker der Sowjetrepublik Kasachstan nicht gearbeitet, sondern das einjährige Jubiläum eines großen innenpolitischen Sieges gefeiert: Seit dem 19. Oktober 1989 hat es auf kasachischem Boden, auf dem bisher einzigen sowjetischen Atomwaffenversuchsgelände von Semipalatinsk, keinen Wasserstoffbombentest mehr gegeben. Im Gegensatz zu allen bisherigen Moratorien der Welt handelt es sich hier nicht um das gnädige Zugeständnis irgendeiner Regierung: eine breite Volksbewegung hat vielmehr durch Meetings und andere Protestaktionen, schließlich durch die Drohung mit dem Generalstreik in ganz Kasachstan, den Teststopp erzwungen.

Daß Kasachstan zum ethnischen Schmelztiegel wurde, zur Sowjetrepublik mit der höchsten Anzahl von national gemischten Ehen, ist nicht zuletzt Chruschtschows Neulandgewinnungspolitik zu verdanken, die Anfang der fünfziger Jahre Menschen aus allen Teilen der Sowjetrepublik hierher führte. Fast gleichzeitig begann die atomare Aufrüstung der Sowjetunion, die große Flächen kasachischer Erde auf ewig menschlicher Nutzung entzogen hat. Mit demselben Zynismus, mit dem heute sowjetische Militärs behaupten, ihre Wasserstoffbomben seien „ökologisch reiner“ als deren westliche Schwestern, wurden damals kasachische Hirten und Bauern zu Versuchskaninchen gemacht.

„Vierzig Jahre lang haben das sowjetische Militär und die Kriegsindustrie einen unerklärten Atomkrieg gegen uns geführt“, erklärt Talgat Sljambekow, einer der wenigen bis heute Überlebenden von vierzig Einwohnern, die bei der ersten H-Bomben-Explosion in dem dreißig Kilometer von dem Testgelände entfernten Dorf Karaul zurückgelassen wurden, während man die restlichen Einwohner evakuierte. Den Zurückgebliebenen erzählte man, es bestünde für sie keinerlei Gefahr. Später wurden sie in Semipalatinsk medizinischen Tests unterzogen und bekamen eine Sonderration Wodka gegen die Strahlung.

1957 wurde in Semipalatinsk eine „Gesundheitsfürsorgestelle zur Brucelloseprophylaxe“ eröffnet, die tatsächlich nicht diese äußerst seltene Krankheit, sondern die Auswirkungen atomarer Strahlung auf die Bevölkerung untersuchte. Zu deren strahlenmedizinischer Versorgung geschah weiterhin nichts. Immerhin sind es die nach jedem Versuch erfolgten Messungsdaten dieser Institution, die heute den verharmlosenden Angaben der Militärs über Anzahl und Ausmaß der Versuche entgegenstehen.

Diese und andere Informationen wurden dem kasachischen Dichter Olschas Sulejmenow als Abgeordnetem des Obersten Sowjets der UdSSR zugespielt. Im Februar 1989 zerriß er den Mantel des Schweigens um das Versuchsgelände und funktionierte eine Live-Sendung des kasachischen Fernsehens zu diesem Zweck um. Die Bewegung von Hunderttausenden kasachischer Bürger, die sich noch im gleichen Monat bildete, nannte sich von Anbeginn an „Nevada-Semipalatinsk“, bald auch „Nevada-Semipalatinsk-Mururoa“, um ihren internationalen Charakter zu betonen. Etwa siebenhundert Atomwaffengegner aus aller Welt kamen im Mai dieses Jahres nach Alma Ata zu einem Kongreß, den die internationalen Vereinigungen „Bürger gegen Atomtests“ und „Ärzte gegen den Atomkrieg“ veranstalteten. Gerade die amerikanischen Teilnehmer bekundeten hinterher, wie sehr sie die Begegnungen mit den Menschen in Kasachstan bewegt und deren Beispiel inspiriert habe. „Wenn sie Präsident Bush derart unter Druck setzen könnten, wie es das kasachische Volk mit mir gemacht hat, wäre das atomare Wettrüsten bald beendet“, sagte damals Präsident Gorbatschow zu Dr. Bernard Lown von der amerikanischen Sektion der „Ärzte gegen den Atomkrieg“. Noch immer übergeht die sowjetische Presse die Volksbewegung in Kasachstan mit Schweigen. Gerade weil sie „von unten“ kommt, meint Olschas Sulejmenow, der Anfang Oktober in der 'Iswestija‘ immerhin seine historische Sicht der Versuche darlegen konnte. Das Moratorium in Kasachstan wird von der Sowjetregierung offiziell als „Pause“ bezeichnet.

Der Versuch der sowjetischen Militärindustrie, mit ihren atomaren Experimenten auf die arktische Halbinsel Novaja Semlja auszuweichen, trifft auf den Widerstand der Bevölkerung dieser Region. Schon entstand dort in Anlehnung an Kasachstan eine eigene Protestbewegung „Nevada-Novaja Semlja“. Inzwischen hat der neugewählte Oberste Sowjet von Kasachstan seine Entscheidung getroffen: Es ist so gut wie hundertprozentig sicher, daß die bald zu verabschiedende neue Verfassung der Republik die Herstellung und Erprobung von Massenvernichtungsmitteln auf kasachischem Territorium für alle Zeiten untersagen wird.