„Gleich ist alles vorbei“

■ Bericht eines Betroffenen aus der Nebelwand — eingekeilt zwischen hundertfünfzig Autos

Plötzlich steht eine Wand vor uns. Das Kreischen unserer Bremsen hören wir erst, als es schon fast vorbei ist. Blitzartig schießt mir durch den Kopf: In der nächsten Sekunde ist vielleicht schon alles vorbei. Du kannst jetzt nichts mehr machen.

Wir sind ganz früh los, wollten in den Tag hineinfahren. Es war leichter Nebel. Die Sicht war auf zweihundert Meter frei — glaubte ich. Auf der rechten Spur fahren sie 80, auf der linken 100 — gemütliches Autobahntempo.

Sekunden später der Aufprall. Fünf Meter mehr, und es hätte gereicht. „Festhalten!“ hatte die Beifahrerin noch geschrien, aber hinten wurden die Kinder erst durch die kreischenden Bremsen aus dem Schlaf gerissen. Ein paar Beulen, nichts Schlimmes. Nach dem Knall einen Moment lang Stille.

Aber dann hinter uns: das langgezogene Aufjaulen der Bremsen. Es splittern Rücklichter und Scheiben, ein Aufprall. Ich sehe noch, wie ein schon stehender Wagen einen Stoß bekommt, einen Meter nach vorn springt. „Das Auto fährt noch!“ schießt es mir durch den Kopf, kurz zurücksetzen, bloß weg von dem Platz am Ende. Hinten das Kreischen, der Aufprall, immer wieder. Vor mir, inmitten zusammengeschobener Blechkneuel, eine Lücke: da schnell reinlenken, in Deckung bringen.

Raus! Raus! Raus! „Dort hinter den Lastwagen!“ Hinter uns das Inferno. Hinter dem Lastwagen sind wir sicher. Er hat einen Skoda 20 Meter vor sich hergeschoben, steht halb auf der abschüssigen Böschung. Eine dickliche Frau mit Kräusellocken weint hysterisch neben ihrem Trabi, der zerborsten quer auf der Fahrbahn steht, direkt vor uns. Ein anderes Paar liegt sich schluchzend in den Armen. Menschen schälen sich aus ihren Autowracks, und hinter uns immer noch die schrillen Vollbremsungen, die dumpfen Aufpralle. Auf dem Mittelstreifen liegt ein BMW auf dem Kopf. Der muß Sekunden nach uns in das Kneuel der verkeilten Wagen gerast sein. Der Beifahrer, hören wir später, ist schwer verletzt.

Die Menschen gehen hektisch aufeinander los, beschuldigen sich gegenseitig. Andere fangen schon wenige Minuten nach dem Unfall, mitten im Inferno, an, nach ihren Versicherungspolicen zu kramen. Langsam entfernen sich die Aufprallgeräusche, sind bald nicht mehr zu hören. Nach zehn Minuten taucht der erste Polizist auf.

Der Unfall ereignete sich morgens um sieben auf der Autobahn Berlin-Hannover bei Magdeburg. Bis auf einen Schwerverletzten sind alle glimpflich davongekommen. Beteiligt waren rund 150 Fahrzeuge. Als wir weiterfahren konnten, sahen wir ein paar Kilometer weiter, wie auf der Gegenfahrbahn nach einer anderen Massenkarambolage ein Toter abgedeckt wurde. marke