Sterbehilfe für DDR-Polikliniken

Von 19.000 ÄrztInnen bereits 2.000 gekündigt/ Keinen Pfennig für Polikliniken aus Bonn Marburger Bund: Kündigungen nicht zulässig  ■ Von Vera Gaserow

Berlin (taz) — Sehr geehrte Frau Dr. X, mit dem 1.1.91 besteht die Funktionseinheit Kreiskrankenhaus/Kreispoliklinik Bernau als juristische Person nicht mehr. Grundlage dafür ist der erste Einigungsvertrag (...), nach dem die staatliche Finanzierung des ambulanten Gesundheitswesens mit dem 31.12.1990 endet. Wir müssen deshalb ihr bestehendes Arbeitsrechts-Verhältnis zum 31.12.90 beenden“. Nüchterne Kündigungsschreiben wie dieses treffen derzeit republikweit bei Tausenden von ÄrztInnen in der ehemaligen DDR ein. Rund 2.000 der 19.000 MedizinnerInnen in den Polikliniken und Ambulatorien haben nach Informationen des Marburger Bundes bereits ihre Kündigung in der Tasche. Vor allem in Thüringen und Brandenburg, so die Ärzteorganisation, werden die Kündigungen gleich flächendeckend ausgesprochen. Im Bezirk Gera und Suhl sei bereits den MitarbeiterInnen sämtlicher ambulanter medizinischer Einrichtungen die Entlassung angedroht worden. Besonders betroffen von dieser Kündigungslawine sind ältere Ärztinnen. Denn zu mehr als der Hälfte sind es Frauen, die in den Polikliniken und Ambulatorien arbeiten. Ein Großteil von ihnen ist über 50 Jahre alt. Ihre Chancen als freipraktizierende Ärztinnen arbeiten zu können, sind gleich Null.

Die rasante Kündigungslawine im DDR-Gesundheitswesen betrifft aber nicht nur die dort Beschäftigten, sondern gefährdet in vielen Landesteilen die medizinische Versorgung der Bevölkerung. Denn zu dem bisherigen System der Polikliniken und Ambulatorien gibt es bisher keine real existierende Alternative. Den rund 20.000 MedizinerInnen in diesem Bereich stehen heute nur 500 niedergelassene ÄrztInnen gegenüber. Die Prognose des Marburger Bundes: Bis zum Jahresende wird die Hälfte aller Polikliniken und Ambulatorien nicht mehr existieren oder nicht mehr arbeitsfähig sein.

Währenddessen stehen die praktizierten Massenentlassungen in krassem Gegensatz zu den Lippenbekenntnissen der Politiker. Erst Ende letzter Woche hatte Kanzleramtsminister Seiters vor der Presse erklärt, die Existenz der Polikliniken in der Ex-DDR sei bis zum Jahr 1995 gesichert. So sieht es auch der Einigungsvertrag vor. Nur: der Einigungsvertrag sagt nicht in welchem Umfang und mit welchem Personal diese weiterarbeiten sollen. Er gibt auch keine individuelle Beschäftigungsgarantie. Und der Einigungsvertrag legt noch eine andere Grundlinie fest, die wie eine Todesspritze wirken könnte: Neue Träger der bisher staatlich finanzierten Polikliniken sollen jetzt die Landkreise und Gemeinden sein. Aber finanzieren müssen sich die medizinischen Einrichtungen künftig über die Leistungen, die sie mit den kassenärztlichen Vereinigungen abrechnen. Und genau darin könnte der Fallstrick liegen. Während die niedergelassenen ÄrztInnen in der Ex-DDR künftig nach einem Punktsystem mit der Kasse abrechnen sollen (das etwas niedriger liegt als das ihrer westlichen Kollegen), sollen die Polikliniken pauschal pro Fall bezahlt werden. Über den Knackpunkt, wie hoch nämlich diese Fallpauschale sein soll, hüllt man sich im Bonner Gesundheitsministerium allerdings in Schweigen. In der Disskusion ist jedoch, daß diese Pauschale nur 45 Prozent dessen betragen soll, was Kliniken im Westen erhalten. Und das wäre für viele medizinische Einrichtungen das finanzielle Aus oder zumindest der Zwang zum Totschrumpfen.

Der Marburger Bund appelliert an alle von Kündigungen bedrohten ÄrztInnen, ihre Entlassungen nicht einfach hinzunehmen, denn die meisten dieser Rausschmisse seien nach dem Einigungsvertrag rechtsunwirksam. Aus Bonn kam gestern dagegen die „ermutigende“ Aussage von Gesundheitsstaatssekretär Pfeifer, das Problem Poliklinik löse sich mit der verstärkten Niederlassung von Ärzten allein. Keinen Pfennig wolle Bonn für die Kliniken zahlen.