Die Reise ins Nichts

■ Nicolas Roegs „Track 29“, 22.40 Uhr, ZDF

Der englische Regisseur Nicolas Roeg hat sich niemals damit begnügt, Geschichten einfach herunter zu erzählen. Die Plots seiner Filme sind stets von der Erfahrung der Simultanität durchwoben und mit schrägen, zeitlupenhaften Perspektiven aufgebrochen, aus denen Nebensächliches und Alltagliches fremd erscheint. Sein distanziert kalkuliertes Spiel mit zeitgenössischen (Pop-) Mythen („Performance“, „Der Mann, der vom Himmel fiel“) wurde von der Kritik als Manierismus verkannt. Sein disziplinierter Ausflug in Mystik und Esoterik („Wenn die Gondeln Trauer tragen“) erzeugt noch heute derartige Beklemmung, daß besorgte „Fachleute“ der 'Hörzu' unlängst vor dem Genuß abrieten. Kurzum, die Qualität des 1928 geborenen Engländers besteht darin, immer wieder vielschichtige Bildwelten zu konstruieren, deren Gehalt von unterbezahlten Feuilletonisten und eitlen Filmwissenschaftlern nicht so ohne weiteres zu Papier gebracht werden.

„Track 29“ von 1988 ist Roegs 10. Film, nicht gerade sein bester, doch nach dem Trend seines letzten Streifens „Hexen hexen“ zu urteilen, möglicherweise sein letzter wirklich interessanter. Die nur vordergründig simple Erzählstruktur birgt das schizoide Vexierbild der Psyche einer kinderlosen amerikanischen Hausfrau, Linda Henry (Roegs Ehefrau, Theresa Russel). Während ihr gemäßigt perverser Mann Henry (Christopher Lloyd) auf dem Modelleisenbahn-Kongreß frenetisch den ideologischen Wert der Miniatur als Keimzelle amerikanischen Denkens feiert, kreisen die Phantasien seiner aufgrund des einnehmenden Eisenbahn-Hobbys vernachlässigten Frau immer wieder um eine traumatische Jugenderinnerung. Unter dem erotisch blitzenden Funkenregen des Autoscooter-Stromgitters wurde sie damals auf dem Jahrmarkt von einem mit der Aufschrift „Mother“ tätowierten Ted vergewaltigt.

Ein nicht ganz folgenloses Ereignis, denn eines Tages taucht Martin (Gary Oldman) auf, der sich als ihr (damals abgetriebener) Sohn vorstellt und sein „Recht auf seine amerikanische Kindheit“ einklagt. Im Nu verwickelt der imaginäre Cowboy Linda in pubertär-laszive Rollenspiele, die sich während einer lapidaren Kneipenszene als Selbstgespräche herausstellen und unter Zuhilfenahme alkoholhaltiger Getränke zu einem abgedrehten Desaster eskalieren. Während aus allen Ecken die laufenden Fernseher das Geschehen subtil kommentieren, sich die Gespräche zuweilen überkreuzen und vermischen, entdeckt der unartige Jüngling auf dem Dachboden Pappis Lieblingsfetisch, die krakenhaft das gesamte Haus erdrosselnde Modelleisenbahn.

Mit der King-Kong-artigen Zerstörung der Miniatur als Inferno grande geht auch Lindas letzter Wirklichkeitsbezug dahin. Denn als Henry — Unheil ahnend — nach Hause kommt, ist die Eisenbahn interessanterweise unversehrt. Im nächsten Moment jedoch bricht Henry unter den leidenschaftlichen Messerstichen von Lindas Phantomliebling zusammen. Ödipus als Waffe. Es ist ein strahlen heller Tag, und Linda verläßt im Linda-Evans- Look das Haus, um ein neues Leben zu beginnen, als Fiktion in der Fiktion. Manfred Riepe