Der arabische Vertreibungskrieg

Flucht und Vertreibung von Fremdarbeitern unterschiedlicher Nationalitäten aus dem Irak und Kuwait fand internationale Beachtung/ Parallel dazu werden Hundertausende von Jordaniern, Palästinensern und Jemenitern gezwungen, Saudi-Arabien und die anderen Golfstaaten zu verlassen  ■ Aus Amman Khalil Abed Rabu

Nach 28 Jahren kehrt der Ägypter Mohammad Nasser (alle Namen von der Redaktion geändert) in seine Heimat zurück. Er hat im Jemen gelebt. Warum? Wie ist er dorthin gekommen? Niemand weiß das so genau, nicht mal er selbst. In den Händen hält er ein Blatt Papier mit seiner amtlichen Kurzbiographie: „Mohammad Nasser war Soldat der ägyptischen Armee. 1962 wurde er mit einer Einheit nach Jemen geschickt. Er wurde krank und hat sein Gedächtnis verloren.“ Wer ihm seine Lebensgeschichte geschrieben hat, weiß er nicht. Auch nicht, wie er ins Flugzeug nach Kairo gekommen ist. Er ist vollkommen verwirrt. Er blickt mich fragend an. Er will wissen, wo er sich jetzt befindet. Ich weiß selber nicht so genau, wo wir hin geraten sind. Schließlich setzt er sich auf den Betonfußboden. Wenige Minuten später ist Mohammad Nasser in der Welt seiner Träume und beginnt zu schnarchen.

„Er wird bestimmt berühmt. Alle Zeitungen werden über ihn schreiben,“ sagt einer der drei Aufpasser, die uns in dieser Nacht bewachen. „Seine Familie wird schockiert sein. Sie haben bestimmt geglaubt, daß er tot ist. Und jetzt, nach 28 Jahren erscheint er plötzlich wieder. Das ist ein Wunder.“ Ich frage sie: „Warum habt ihr ihn denn dann festgenommen? Das ist ja wohl nicht gerade ein ehrenvoller Empfang. Habt ihr etwa Angst, daß er ein jemenitischer Spion ist, der terroristische Aktionen in Ägypten organisieren wird?“

Die drei Wächter schauen mich voller Erstaunen an. Sie sind nicht daran gewöhnt, daß ihnen die „Bewohner“ dieses Raumes ungebührliche Fragen stellen. Ich bekomme keine Antwort. Außerdem fühlen sie sich verhöhnt. Mohammad Nasser ist über fünfzig und besteht nur aus Haut und Knochen. Wie kann so einer terroristische Aktionen ausführen?

Die Bekanntschaft von Mohammad Nasser habe ich am Stadtrand von Kairo gemacht, genauer, im Gefängnis des „Cairo International Airport“. Ursprünglich war die Stadt mein Reiseziel. „Aus Sicherheitsgründen“, wie man mir versicherte, konnte ich dieses Ziel jedoch nicht erreichen. Ich mußte, wie Mohammad Nasser und etliche andere Leute auch, im Gefängnis auf den nächsten Flug dorthin warten, woher ich gerade gekommen war: nach Amman. Abflug: neun Stunden später.

Warum wir nicht in einem Hotel, oder wenigstens im Transitraum warten durften, weiß ich bis heute nicht. „Befehl von oben“, erklärten die Wächter mehr als einmal und zeigten mit den Fingern zur Decke.

Wir waren knapp fünfzig Leute, in einem schmutzigen, zwanzig Quadratmeter großen Raum und einem davor liegenden Korridor. Am einen Ende des Korridors Toiletten, „außer Betrieb“, die zum Himmel stanken. Am anderen Ende die besagten drei Wächter. Unter den Festgehaltenen überwiegend Jordanier, Palästinenser und Jemeniten. In Ägypten und den Golfstaaten gelten diese Nationen neuerdings als „unaufrichtig“ und „unwahrhaftig“. Auch ich bin Angehöriger einer solchen Nation.

Irak und andere Staaten sind jetzt „Feindesland“

Einer meiner „Mithäftlinge“ heißt Ahmad, ein Palästinenser, der seit seiner Geburt in Ägypten lebte. Er ist dort verheiratet und hat vier Kinder. Vor zwei Jahren hat er eine Stelle im PLO-Büro in Bagdad angenommen. Seine Familie blieb in Ägypten und er besuchte sie mehrmals im Jahr. Er brachte seiner Frau dann auch immer genügend Geld für die nächsten vier bis fünf Monate mit. Diesmal verbrachte er seinen Aufenthalt in Ägypten mit Mohammad Nasser und mir und den anderen im Korridor des Flughafengefängnisses.

„Das ist nicht gerecht“, beklagt er sich, „meine Familie ist nur zehn Kilometer von hier entfernt und ich darf nicht zu ihnen. Wovon sollen die Fünf jetzt leben?“ Einer der Wächter mischt sich ein: „Du warst verrückt, in diesen Zeiten von Bagdad nach Kairo zu kommen.“ „Was soll das heißen?“, frage ich ihn, „ist Bagdad jetzt der Feind von Kairo?“ Ich ernte erzürnte Blicke von den Wächtern. Natürlich können sie nicht sagen, daß Irak jetzt „Feindesland“ ist, noch dazu, wo ihre Regierung gute Beziehungen mit Israel, dem „Feind der Araber“, hat.

Ein anderer heißt Khaled. Auch er wurde in Kairo geboren. Er hat ein spezielles Reisedokument, das die ägyptische Regierung nur Palästinensern ausstellt. „Das ist eben unser Schicksal“, sagt er, „immer vertrieben und im Elend zu leben“. Er kam von einem Besuch bei seinen Eltern in Kuwait zurück und studiert in Kairo.

„Meine Eltern haben alles verloren, und wenn sie mich jetzt aus Ägypten vertreiben, muß ich mein Studium aufgeben. Die Frage ist, wo ich dann überhaupt noch hingehen kann. Nach Kuwait kann ich nicht und kein anderes arabisches Land wird mir eine Aufenthaltsgenehmigung geben.“

Am nächsten Morgen wurde ich in aller Frühe mit zehn weiteren Palästinensern und Jordaniern nach Amman zurückgeschickt. Wir hatten sogar eine Eskorte: Zwei Wächter begleiteten uns zum Flugzeug. Eine solche Ehre wurde mir noch nie zuteil. Ich war an einer der vielen Runden einer Auseinandersetzung zwischen den Golf-Staaten und Ägypten auf der einen und Jordanien, Jemen und der PLO auf der anderen Seite beteiligt, die den Namen „Vertreibungskrieg“ verdient. Ägypten begrüßt und unterstützt dabei die „Operationen“ der Golfstaaten und verlangt ein noch härteres Vorgehen.

In den Golfstaaten — außer Kuwait — lebten und arbeiteten bis zum Beginn der Golfkrise knapp 600.000 Jordanier und Palästinenser, wobei viele der Palästinenser jordanische Pässe haben. Jetzt droht ihnen der Verlust ihrer Arbeitsstellen und ihres Besitzes. Bislang gibt es keine genauen Angaben über die Zahl der Vertriebenen; verschiedenen Quellen zufolge sind es bereits zwischen 30.000 und 40.000 Menschen. Wirtschaftsexperten vermuten, daß es in ein paar Monaten bis zu 150.000 Vertriebene sein werden.

In Saudi-Arabien lebten knapp 300.000 Palästinenser und Jordanier; bis jetzt mußten 25.000 gehen. Die saudischen Behörden haben die offizielle Anweisung erhalten, Palästinensern und Jordanien ihre Arbeitsgenehmigungen nicht mehr zu verlängern. Auch andere Mittel werden angewandt: Beispielsweise haben die saudischen Universitäten keine Studenten dieser Nationalitäten zur Immatrikulation zugelassen. Hauseigentümer verlangen plötzlich von Jordaniern und Palästinensern ungeheure Mieten für Wohnungen und Geschäftsräume. Es gibt Kontrollposten in den Städten. Jemeniten, Palästinenser und Jordanier müssen mit Schikanen und Beleidigungen rechnen, wenn sie angehalten werden. Ein Jordanier, der gerade aus Saudi-Arabien kam, erklärte in einem Interview mit einer jordanischen Zeitung: „Sie versuchen, uns das Leben zur Hölle zu machen. Und wenn wir dann das Land verlassen, sagen sie, wir wären freiwillig gegangen.“

In den anderen Golfstaaten geht man ähnlich vor. In den Emiraten leben etwa 75.000 Palästinenser und Jordanier, in Qatar etwa 20.000. Auch aus diesen Staaten wurden bereits mehrere Hundert Leute vertrieben, Tausende erhielten Warnungen: Ihre Geschäfte würden geschlossen und sie sollten innerhalb weniger Tage das Land verlassen.

Am 19. September hat die saudische Regierung mehrere neue Gesetze beschlossen: Alle Vergünstigungen, die Jemeniten, Palästinenser und Jordanier dort hatten, wurden ersatzlos gestrichen. Früher brauchten die Jemeniten zum Beispiel kein Visum. Sie konnten sehr einfach Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen bekommen; sie konnten Häuser und Geschäfte besitzen, ohne daß ein Saudi als Bürge auftreten mußte. Auch Palästinenser und Jordanier durften Geschäfte betreiben. Damit ist es jetzt vorbei.

In Saudi-Arabien lebten zwischen anderthalb und zwei Millionen Jemeniten, das sind etwa zwanzig Prozent der saudischen Bevölkerung. Mit Hilfe der neuen Bestimmungen oder anderer Mittel wurden nach Angaben des Arabischen Roten Halbmondes seit Beginn der Golfkrise 350.000 von ihnen vertrieben, am vergangenen Wochenende allein 80.000. Bis zum Ende dieser Woche könnten es, der gleichen Quelle zufolge, leicht bis zu einer halben Million Menschen sein, die gezwungenermaßen von Saudi-Arabien in den Jemen zurückkehren mußten.

Ohne einen saudischen Bürgen können Jemeniten jetzt keine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung in Saudi-Arabien mehr bekommen und auch keine Immobilien mehr erwerben. Kein Saudi ist aber unter den gegebenen Umständen bereit, eine solche Bürgschaft zu übernehmen. Also müssen die Jemeniten ihre Häuser und Grundstücke verkaufen und gehen.

Saudische Staatsbürger suchen diese Situation jetzt für günstige Immobilienkäufe zu nutzen: Saleh Ali zum Beispiel, ein Jemenit, der in Al- Damman in Saudi-Arabien ein Haus und drei Geschäfte besitzt, berichtete in einem Interview mit dem jemenitischen Fernsehen: „Das Haus habe ich für 300.000 Rial gekauft. Ein Saudi wollte es mir jetzt für 10.000 Rial abkaufen. Ich wollte das Haus anzünden, aber sie haben mich dabei erwischt, halb tot geschlagen und dann nach Jemen ausgewiesen.“

Bei der Ausreise wurden Tausende von Jemeniten an der saudischen Grenzen gezwungen, ihre Autos zu verlassen. Ihr Eigentum wurde von saudischen Soldaten beschlagnahmt.

Während eines Berichts im jemenitischen Fernsehen erzählte ein jemenitischer Familienvater von seinen Erfahrungen: „Nachdem sie uns gezwungen hatten, unsere Autos zu verlassen, mußten wir zu Fuß auf die jemenitische Seite gehen. Das sind ungefähr zehn Kilometer. Ich habe zwei Frauen und sieben Kinder und wir mußten in der glühenden Hitze laufen. Wir hatten kein Wasser und nichts zu essen, weil sie alles beschlagnahmt haben.“ Ein anderer berichtete in der gleichen Sendung, sie hätten sogar seine Schuhe beschlagnahmt — weil sie neu waren.

Die jemenitische Regierung rechnet damit, daß in Zukunft täglich fünf- bis zehntausend Jemeniten über die Grenze kommen werden. Viele von ihnen haben keine Wohnungen im Jemen. Darum hat die Regierung bereits ein Lager für die Obdachlosen errichtet.

Der Wert des Besitzes, den die Jemeniten in Saudi-Arabien verloren haben, und die Verluste für den jemenitischen Staat sind bislang kaum abzuschätzen. Wenn man aber bedenkt, daß Nord- und Südjemen zusammen rund ein Viertel ihres Bruttosozialprokukts (über eine Milliarde US-Dollar) aus Überweisungen jemenitischer Gastarbeiter in Saudi- Arabien beziehen, wird klar, wie empfindlich die jemenitische Wirtschaft durch diese großangelegte Vertreibungsaktion getroffen ist.

Auch für Jordanien hat die Vertreibung seiner Staatsbürger aus den Golfstaaten gravierende Folgen: 320 Millionen Dollar wurden vor der Krise jährlich auf jordanische Konten überwiesen, und weitere 200 Millionen Dollar an Familien palästinensischer Gastarbeiter, deren Familien in der Westbank und im Gaza- Streifen leben. Außerdem wird die Rückkehr der Vertriebenen die betroffenen Länder vor kurzfristig kaum lösbare Probleme stellen: Die Zahl der Arbeitslosen wird drastisch ansteigen, Schulen und Universitäten und andere Einrichtungen werden hoffnungslos überfüllt sein, die Wohnraumkapazitäten knapp.

Der Vertreibungskrieg hat auch in Diplomatenkreisen bereits seine Auswirkungen: Ende letzten Monats hat die saudische Regierung 32 jordanische und 62 jemenitische Diplomaten ausgewiesen. Die offizielle Begründung: Sie hätten die Sicherheit Saudi-Arabiens gefährdet. Jordanien hat als Antwort darauf seinen Botschafter aus Riad abgezogen.

In Jordanien wird spekuliert, daß die ägyptischen Behörden im Hintergrund dieser Vertreibungsaktionen ein Rolle spielen: Angeblich wurden die Regierungen der Golfstaaten von Ägypten darüber informiert, daß Palästinenser, Jordanier und Jemeniten terroristische Aktionen in ihren Ländern planen. Die Intention Ägyptens sei dabei aber höchst eigennützig: Der Arbeitskräftemangel, der infolge dieser großangelegten Vertreibung von Jemeniten, Palästinensern und Jordaniern in den Golfstaaten entsteht, solle genutzt werden, um ein ägyptisches Problem zu lösen: Hunderttausende von Ägyptern, die nach ihrer Vertreibung aus dem Irak und dem besetzten Kuwait jetzt ohne Geld und Arbeit in Ägypten leben und von der maroden ägyptischen Wirtschaft auf keinen Fall integriert werden können, hätten so eine reelle Chance, wieder Arbeit im arabischen Ausland zu finden.

Natürlich haben die Vertreibungsaktionen aus Saudi-Arabien und den Golfstaaten den Charakter von politischen Strafmaßnahmen an die Adresse jener Mitglieder der Arabischen Liga, die gegen die Präsenz der internationalen Streitmacht am Golf opponieren: vor allem Jordanien, Jemen und die PLO. Sie und weitere sechs arabische Staaten haben sich für eine arabische Lösung der Golfkrise eingesetzt.