Eine akustische Peep-Show

■ Wer Richtung Osten telefoniert, wird zum Geheimnisträger ganz besonderer Art

Berlin (taz) — Eigentlich ist es reichlich unanständig und mit ziemlicher Sicherheit gehört es sogar verboten. Nur: wie vieles Unanständige und Verbotene macht diese bohrende Neugier scharf auf mehr und irgendwann kann man's einfach nicht mehr lassen. Zugegeben, anfangs war es aus der Not geboren: ungezählte Versuche einen Gesprächspartner in der ehemaligen DDR telefonisch zu erreichen, schon nach der ersten Vorwahlnummer das nervenzerrüttende biep, biep, biep. Erneuter Versuch und — wieder mitten drin zwischen Ost und West das bekannte Besetztzeichen. Man wählt sich die Finger wund, es ist zum Mäuse melken! Man will den Hörer aufknallen, aber da ganz plötzlich ein menschliches Wort aus der Muschel: Nur ist es nicht die gewünschte Stimme von Cousine Karin oder der Volkspolizei Potsdam. Nein, die geheimnisvollen Stimmen gehören wildfremden Menschen, denen offenbar das gelungen ist, was man seit Tagen vergeblich betreibt: sie telefonieren von Ost nach West.

Erstmals in ein solch fremdes Gespräch hineingerutscht, legt man als heimlicher Mithörer noch peinlich berührt auf. Beim zweiten Mal deckt man schon die Muschel zu und hält den Atem an. Beim dritten Mal fühlt man sich schon als stolzer Geheimnisträger und versucht solange zu lauschen wie es irgend geht. Die akustische Peep-Show zieht einen in ihren Bann. Die Suchtkarriere nimmt ihren Lauf. Was als technische Panne begann, wird zum Gesellschaftsspiel. Auf der Suche nach belauschten Intimitäten und kleinen Sensationen wollen die Finger einfach nicht vom Telefon lassen und rutschen mit hoher Trefferquote in ein überraschendes Gespräch hinein: Was Tante Hilda der Verwandschaft beim nächsten Ostbesuch mitbringen soll oder die Babynahrungsfirma X zur Geburt des Stammhalters geschenkt hat, liegt ebenso in der Leitung wie die Geschäftsabsprache zweier Gebrauchtwagenhändler. Brisante Informationen über illegalen Organhandel in der ehemaligen DDR werden ebenso geboten wie gequälte Bewerbungsverhandlungen bei einer Leiharbeitsfirma oder heimliche Verabredungen zum Seitensprung. Ost-West-live, mit der Post immer in der ersten Reihe. Was bisher Privileg von Stasi und Vefassungsschutz war, wird zum pikanten Privatvergnügen für jedermann und jedefrau.

Die Amtmänner bei der Post haben in völliger Verkennung der wahren Faszination schon längst einen kränkend profanen Namen für das Phänomen gefunden: das „Nebensprechen“. Daß es jetzt zum Massenphänomen wird, ist die Schuld des Ostens. Der nämlich verfügt über ein so marodes Telefonleitungsnetz, daß nur ein bißchen Feuchtigkeit ausreicht, schon ist die Isolierung hin, und private Gespräche liegen blank in der Leitung. Tun kann die Post dagegen vorerst nichts — außer das gesamte Telefonnetz rauszureißen, und das dauert Jahre. Bis dahin können die Herren in Gelb nur an die Wohlanständigkeit der heimlichen Lauscher appellieren, denn „der normale Umgangston“, so heißt es, „gebietet doch wohl, daß man in solchen Situationen dezent auflegt“. Gar nicht so wohlanständig ist, daß die Bundespost an vielen vergeblichen Telefonversuchen von West nach Ost kräftig absahnt. Denn in den defekten Leitungen wird auch beim Besetztzeichen ein Kräfteimpuls einer Telefoneinheit ausgelöst, der 23 Pfennig kostet. Wie oft dieser Impuls fälschlicherweise ausgelöst wird, weiß die Post angeblich nicht — nur, daß sie daran verdient. Vera Gaserow